Selg, Herbert: Sigmund Freud - Genie oder Scharlatan? Eine kritische
Einführung in Leben und Werk. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2002,
126 S., 15.00 Euro
Warum macht es Spaß, sich mit Freud auseinander zu setzen?
Weil man an ihm seinen Geist schulen kann. Fast alle seine Behauptungen
sind problematisch oder falsch, aber was ist dann die Wahrheit? Die Antwort
auf diese Frage beschäftigt immer noch Scharen von Autoren, die jährlich
rund 200 Bücher über Freud herausgeben. Die meisten apologetisch,
einige kritisch. Herbert Selgs Buch "Sigmund Freud - Genie oder Scharlatan?"
ist kritisch, trotz des offenen Titels.
Die Psychoanalyse ist für den emeritierten Bamberger Psychologieprofessor
Selg ein Märchen aus den Anfängen der Psychologie. So wie die
Astrologie und die Alchemie die moderne Astronomie und Chemie einerseits
kräftig behinderten, andererseits mit vorbereiteten, so ist die Psychoanalyse
notwendiges Durchgangsstadium der Psychologie gewesen. Psychologiestudenten
werden nicht umhin kommen, sich mit Freud auseinander zu setzen, immerhin
ist er der bekannteste Psychologe der Welt.
Selgs Buch wendet sich an diese Studenten, die einen Überblick
über die Fragwürdigkeiten des Forschers Freud bekommen sollen.
Es ist keine Bilanz, sondern eine Abrechnung. Schon die Initialzündung
der Psychoanalyse, der Fall "Anna O.", war ein Reinfall. Alle Symptome
der Patientin waren wahrscheinlich entweder simuliert oder durch Morphium
hervorgerufen. Sie wurde nie geheilt, obwohl Freud jahrzehntelang das Gegenteil
behauptete. Eine "Befreiung von den Symptomen" durch Nacherzählen
erwies sich auch in den wenigen anderen von Freud beschriebenen Fällen
(er veröffentlichte insgesamt nur neun) als weitgehend wirkungslos.
Das Konzept vom absolut Unbewussten, das ans Tageslicht kommen soll, konnte
nie bestätigt werden.
Freuds zentrale Hypothese, dass jede Hysterie im Kern eine Sexualstörung
sei, steht quer zu allem, was Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand
über die Psyche zu sagen hat. Wollten die therapierten Frauen das
nicht bestätigen, suggerierte er ihnen genau das. Das "Warenzeichen"
der Psychoanalyse, der Ödipuskomplex (der Wunsch aller kleinen Kinder
nach Inzest), beruht auf einer krassen Fehlinterpretation der antiken Sage.
Empirische Belege blieben aus; Inzest ist in allen Kulturen eine äußerst
seltene Abirrung. Ein anderer Grundstein der Psychoanalyse, die "Traumdeutung",
ist kaum mehr als eine unstatthafte Generalisierung der Inhalte eines einzigen
Traumes Freuds. Auch das Buch über Leonardo da Vinci beruht auf einer
Fehlinterpretation eines einzigen Wortes "Geier". Die Fernanalyse des "kleinen
Hans" blieb seine einzige Kinderanalyse, die zudem eher ein Verhaltenstraining
des Vaters war, der seinem kleinen Sohn die Angst vor Pferden nahm.
Freuds berühmtester Fall, der "Wolfsmann", sollte beweisen, dass
jede Erwachsenenneurose auf einem sexuellen Schock in der frühen Kindheit
beruht. Jahre später sagte der Wolfsmann, dessen Identität bekannt
wurde, Freuds Deutungen seien seines Erachtens an den Haaren herbeigezogen.
Nach Selg ist der "Wolfsmann" keine ernsthafte Fallgeschichte, sondern
ein Roman, der in die Weltliteratur einging. Das treffe auch auf "Der Mann
Moses und die monotheistische Religion" zu. Die Todestriebhypothese (jeder
will in den leblosen Zustand vor seiner Zeugung zurück) wie die gesamte
Trieblehre bleib - wie Fraud selbst schrieb - eine Mythologie. Die Phasenlehre
sieht Selg als groben Fehlgriff an. Nur einige der von Freud beschriebenen
Abwehrmechanismen konnten empirisch gestützt werden. Überhaupt
fürchten die orthodoxen Psychoanalytiker die empirische Überprüfung
ihrer Aussagen wie der Teufel das Weihwasser, obwohl Freud seine Lehre
in den Naturwissenschaften ansiedelte.
Immer mehr fühlen sich herausgefordert, Freuds Gedankengestrüpp
zu ordnen, entweder indem sie Freudsche Versatzstücke um- oder neu
interpretieren (und sich damit von ihm distanzieren), oder durch eine begründete
Kritik, die zwar nichts Neues dem Thema Psyche hinzufügt, aber zumindest
die Irrtümer bloßlegt. Selg gehört zur zweiten Kategorie.
Wie die anderen Kritiker geht Selg von Freud aus, kommt von ihm, geht durch
ihn hindurch, lässt ihn hinter sich. So trägt die anschwellende
Kritik an Freud dazu bei, dass Freud lebendig bleibt. Daneben gibt es Versatzstücke,
die bis in die Gegenwart wirken, wie beispielsweise seine Religionskritik.
Die Psychoanalyse bleibt somit so unsterblich wie andere Märchen auch,
die immer und immer wieder erzählt werden. Und noch aus einem anderen
Grund werden sich noch Generationen an ihm die Zähne ausbeißen.
Auf Teilen seiner Korrespondenz liegt noch bis zum Jahr 2113 ein Veröffentlichungsbann,
vermutlich weil dort weitere Details lagern, die der Freud-Kritik zusätzliche
Munition liefern werden.
Für Selg muss von vorn herein das Urteil festgestanden haben, wobei
er nicht der Meinung ist, Freud sei ein "Scharlatan" gewesen, wenn Scharlatan
jemand ist, der genau weiß, dass und wie er sein Publikum für
dumm verkauft. Freud glaubte wirklich an das, was er schrieb. Laut Selg
war der Begründer der Psychoanalyse eher ein Wissenschaftsfälscher
und -blender. Er hatte kein wissenschaftliches Ethos, der ihn erkennen
ließ, wo seine Grenzen liegen. Freuds überdurchschnittlicher
Ehrgeiz, gepaart mit Rechthaberei und Ruhmsucht, sind Grundlagen dieses
Unvermögens. Und er hatte ziemlichen Erfolg damit! Es ist ja nicht
so, dass eine kräftige Neurose handlungs- und erfolglos macht.
Freud war erfolgreich in der Verbreitung seiner Ideen, aber war er auch
"groß"? So gut wie keine These Freuds ist unwidersprochen geblieben,
sei es, dass Überprüfungen zu anderen Ergebnissen führten,
sei es, dass der bloße Augenschein und die alltägliche Erfahrung
seine Thesen als absurd erschienen ließen. Andererseits verbreiteten
sich Begriffe wie Es/Ich/Überich, Verdrängung und Sublimierung
über den ganzen Globus. Aber was heißt das schon? Dass Freud
populär war und ist. Seiner mangelnden wissenschaftlichen Reputation
hilft das nicht wirklich auf die Beine.
Ein weit verbreitetes Entlastungsargument der Freud-Apologeten lautet,
die Psychoanalyse habe sich weiterentwickelt. Angenommen, dies stimmt,
so spricht das eher gegen als für Freud. Das Argument impliziert,
dass Freud wirklich historisch geworden ist, dass die Zeit über ihn
hinweg ging, und dass man ihn allenfalls als ein mit unsäglich vielen
gedanklichen Fehlern behafteten Gründervater nachsichtig verehren
darf. Seinen Hypothesen aber muss und sollte niemand mehr folgen.
Denn es ist ja keineswegs so, dass Freud als Pionier sozusagen unvermeidlich
Fehler unterliefen, "weil man es damals noch nicht besser wusste". Vielmehr
dachte er viele in Fachkreisen bekannte Gedanken nur nach (beispielsweise
die von Schopenhauer), und er war einer, der teils (bewusst?) fälschte,
teils Hypothesen verfolgte, die nicht erst Jahrzehnte später, sondern
schon bei Veröffentlichung als abwegig abgetan werden konnten. Der
Widerstand gegen Freud in Wien um 1900 erwuchs nur zum Teil aus seinen
schockierenden Hypothesen, mehr noch aus der offensichtlichen Abwegigkeit
seiner Hypothesen. Mit seinem sexuellen Tick, seinen vagen Formulierungen,
seiner leicht zu durchschauenden Pseudogewissheit, seiner unangenehmen
Rechthaberei, kam er bei den meisten einfach schlecht an. Das war kein
Widerstand gegen seine "Wahrheiten", die ein angeblich verdruckstes Bürgertum
nicht hören wollte. Sondern es war ein Widerstand gegen Hypothesen,
die nicht bewiesen wurden und unbeweisbar blieben.
Gerald Mackenthun
Berlin, November 2002
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