Doerry, Martin: "Mein verwundetes
Herz". Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944. Deutsche Verlagsanstalt,
Stuttgart u. München 2002, 351 Seiten
Der Enkel Lilli Jahns, Redakteur des Spiegel, legt hier eine
erschütternde Briefsammlung vor, die mindestens ebenso berührend ist, wie die
Tagebücher Victor Klemperes. Allerdings ist der politische Bezug zum
Nationalsozialismus nur implizit enthalten, geht es doch um einen Briefwechsel,
in dem in Zeiten der Barbarei, als das "Dritte Reich" schon fast am
Ende ist, eine Mutter und ihre Kinder um den Zusammenhalt und die Hoffnung
ringen und kämpfen. 1944 wird Lilli Jahn nach sechs Monaten im
"Arbeitserziehungslager" nach Auschwitz deportiert, wo sie
schließlich zu Tode kommt. Ob in der Gaskammer oder durch Erschöpfung konnte
nicht geklärt werden.
Besonders tragisch ist diese Geschichte, die mehr zufällig zutage kam, weil
der Enkel die Briefe im Nachlass seines Vaters, Gerhard Jahn (ehemals
Justizminister der BRD), fand. Wollte Gerhard Jahn das Andenken seines Vaters,
Ernst Jahn, schützen? Jedenfalls ist seine Rolle nicht gerade rühmlich, denn
er war es letztlich, der seine Frau dem Naziterror auslieferte, weil er sich von
der Jüdin scheiden ließ, die sogenannte Mischehe aufgab und damit seine Frau
auslieferte. Zusammen hatten die beiden fünf Kinder, von denen Gerhard Jahn das
älteste war.
Die Tragödie hat jedoch mehrer Etappen. Zunächst ist es Lilli, die
verstärkt um ihren späteren Mann wirbt, sich auch nicht von seinen
verschiedenen Verhältnissen abschrecken lässt. Ein solches unterhält er noch,
als - zumindest von Lilli - Heiratspläne geschmiedet werden.
"Daß ich Dich erst - um mit Deinen Worten zu reden - erobern mußte,
daß ich jahrelang um Dich gekämpft habe, das versteht sie [Lillis Mutter]
nicht." (69)
Ernst war als früh von beiden Eltern durch Tod verlassenes Kind in der
Verwandtschaft mehr oder weniger herumgestoßen worden, indes Lilli aus gutem
bürgerlichen Hause stammte. Ernst war zeitlebens auf der Suche nach der idealen
Mutter, weshalb es nicht so recht in seine Vorstellung passte, dass Lilli,
promovierte Ärztin, ihrer Berufstätigkeit nachgehen wollte. Diese
Muttersehnsucht spiegelt sich in der Hinwendung vom Protestantismus zum
Katholizismus, hierin besonders zur Madonnenverehrung, die zum Symbol seines
Frauenideals wurde.
Mag sein, dass auch noch ein Ressentiment mitschwang, denn Ernst Jahn war in
seinem Arztberuf zunächst nicht so erfolgreich, vor allem hatte er nicht
promoviert. Er bemühte sich um die Übernahme einer Praxis in einem kleinen
Dorf (Immenhausen) bei Kassel. Und Lilli bot ihm in ihrem Überschwang vor der
geplanten Hochzeit an, ihm eine Dr.-Arbeit zu schreiben. (71) Der Suche Ernst
Jahns nach einer Mutter versuchte Lilli in vieler Hinsicht zum Erfolg zu
verhelfen. In ihren Briefen nennt sie ihn oft "mein großes, kleines
Amadé-Kind" und versucht den zu Depressionen Neigenden aufzuheitern, worin
eine merkwürdige Schieflage dieser Beziehung durchscheint.
Lotte Paepcke, eine Freundin Lillis, beschreibt die Beziehung in einem 1952
veröffentlichten Erinnerungsbuch ("Unter einem fremden Stern"):
"[Ernst Jahn] war in unaufhörlicher innerer Spannung um Klärung und
Ordnung geistiger Wirrsal bemüht, ohne ihrer wirklich Herr werden zu können.
In mütterlicher Liebe nahm Lilli ihn, ihr ältestes Kind, an ihre Brust und
besänftigte zum Bleiben, was in allzu ungebärdigem Streben in ihm
umging." (80)
Das, was man gerne Schicksal nennt, nahm seinen Lauf. Nach der Heirat zog
Lilli aufs Dorf. Aber schon kurz nach der Machtergreifung der Nazis wurde ihr
die Approbation entzogen, durfte sie nicht mehr praktizieren. Das hatte immerhin
den "Vorteil", dass möglicherweise das Ressentiment Ernst Jahns
beschwichtigt wurde, hing doch nun nur noch sein Praxisschild am Haus; ihres mit
dem Dr.-Titel musste abgenommen werden.
1939, floh Lilli Jahns Mutter, nachdem sie die
"Reichsfluchtsteuer" entrichtet hatte, nach England. Ernst, Lilli und
ihre Kinder hatten die Möglichkeit bereits 1935, was der vermutlich weniger
tatkräftige und mutige Ernst sich nicht zutraute.
"Doch Ernst weigerte sich. Denn trotz aller Schikanen der Nazis lief
die Praxis in Immenhausen so gut, dass ihm ein neuer Start in England zu
riskant, zu mühsam erschien. Und allein, gar ohne ihre Kinder, wollte
natürlich auch Lilli nicht fortgehen." (107)
Die Schikanen nahmen zu. Bald konnte Lilli nicht mehr das Haus verlassen,
geschweige denn am kulturellen Leben teilnehmen. Die einzige Verbindung zur
Außenwelt war bald eine junge Ärztin, die den überlasteten Arzt in der Praxis
entlasten sollte. Mit ihr besuchte Ernst Jahn schließlich Theater- und
Konzertaufführungen und bald wurden sie auch intim miteinander.
Diese unarischen Verhältnisse blieben natürlich den 'lieben Nachbarn'
nicht verborgen. Dem Druck gehorchend ließ sich Ernst Jahn im Oktober 1942
scheiden. Lilli durfte nun nicht mehr in dem Haus in Immenhausen bleiben,
sondern bezog mit den Kindern eine Wohnung in Kassel. Ernst wurde als Arzt an
der "Heimatfront" zur Wehrmacht eingezogen.
Der Umzug nach Kassel brachte ein "Vergehen" Lillis mit sich. Sie
heftete fürs erste eine alte Visitenkarte an das Klingelbrett der Wohnungstür.
Darauf stand aber ihr Dr. und vor allem fehlte der zweite verordnete jüdische
Vornahme "Sara". Daraufhin wurde sie im September 1943 im
Arbeitserziehungslager Breitenau interniert. Und hier nun beginnt eben der
erschütternde Briefwechsel zwischen ihr und den Kindern, die nunmehr
überwiegend auf sich gestellt waren, da sie mit der neuen Frau ihres Vaters
nicht gut standen und sich der Vater nur mäßig um sie kümmerte. Die älteste
Tochter Ilse (noch keine 15 Jahre alt) übernahm die Mutterrolle für drei
jüngere Geschwister (der älteste Bruder war inzwischen Flakhelfer und kam nur
auf Besuch), die sie sich gelegentlich mit der ein Jahr jüngeren Schwester
teilte. Über zehn Monate schrieben die Kinder fast täglich an ihre Mutter und
erhielten von dieser offiziell erlaubte Briefe und solche, die sie irgendwie aus
dem Lager schmuggeln konnte. Dabei verstanden die Kinder schnell, was sie
schreiben durften und was sie besser verklausulierten, denn die Briefe wurden
natürlich von der Zensur gelesen.
Im März deportierten die Nazis Lilli nach Auschwitz, von wo sie im Juni
1944 als tot gemeldet wurde.
Bernd Kuck, Dezember 2003
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Das Leben der Lilli Jahn 1900 - 1944.