Marianne Fuchs:
Funktionelle Entspannung, Mit Beiträgen von Eckart Wiesenhütter, Rolf Jahnen und Hans Müller-Braunschweig, 6.
durchgesehene und erweiterte Auflage, Stuttgart 1997, Hippokrates
Verlag, 196 Seiten
Sowohl die Funktionelle Entspannung (F.E.) als auch die
Konzentrative Bewegungstherapie entwickelten sich aus der
Gymnastikbeweung der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Beiden
Verfahren geht es weniger um sichtbaren Ausdruck, um Darstellen oder
Agieren, eher um Empfinden und Nachspüren. Erfahrenes soll dabei
zur Sprache kommen, wobei die F.E. dem Patienten Hilfen an die Seite
gibt, unsichtbare Blockaden aufzuspüren und unter Vitalisierung
des Zwerchfells den eigenen Rhythmus zu entdecken. Dabei tauchen
unweigerlich Phantasien und Erinnerungen auf, die wesentlich mit der
Geschichte und/oder der Erkrankung des Protagonisten in Beziehung
stehen. Im Gegensatz zur Bioenergetik (A. Lowen) und der
Gestalttherapie (F. Perls) – zumindest in ihren Anfängen –
handelt es sich bei der F.E. um eine sehr schonende – besser:
die Eigenart des Patienten respektierende Methdode, die keinen
Widerstand brechen und nicht „puschen“ will. Hier soll
nichts „gemacht“, vielmehr die Neugierde geweckt werden.
Die „diagnostische Berührung“ mit der Hand soll in
der F.E. „stützen“ oder „verlocken“,
eigene Empfindungen zuzulassen.
Die F.E. hat seinerzeit den Kontakt zur anthropologischen Medizin
(V.v. Weizsäcker, Th. v. Uexküll) gefunden, die bekanntlich
versuchte, das Subjekt wieder in die Medizin einzuführen. Das
paßt gut zusammen, will doch die F.E. keine gymnastischen
Übungen anbieten, sondern den jeweils eigenen Zugang zum
jeweiligen Patienten finden. Dies erfordert mehr Intuition und
Einfühlung, die aus tiefenpsycholgischem Verstehen gespeißt
werden.
Da es weder um Autosuggestion noch um Selbstversenkung geht,
sondern um Selbstwahrnehmung, die ins Gespräch mit dem
Therapeuten führt, kann die F.E. durchaus als aufdeckendes
Verfahren bezeichnet werden, das sich besonders bei „psychosomatisch“
erkrankten Menschen anbietet, zu denen der rein verbale Zugang
erschwert oder gar versperrt bleibt. Die Leibverbundenheit soll
jedoch erhalten werden. In der Selbstregulierung, in die Bewußtes
und Unbewußtes einbezogen werden, soll nicht lediglich aus „Es“
mehr „Ich“ werden, sondern wo zuviel „Ich“
war – oder gar „Über-Ich“ - soll mehr „Es“
werden, also ein lebendiger Lebensfluß in der Person.
Wie Wiesenhütter in seinem Vorwort betont, geht es bei der
F.E. nicht eigentlich um Entspannung, sondern mehr um „die
Beseitgigung und den Ausgleich von Fehlspannungen“ (S. 16).
Hierzu lieferten erst die Überlegungen v. Weizsäckers die
theoretische Grundlage für die F.E.. So etwa das
„Stellvertreterprinzip“, wonach Konflikte nicht nur
verschoben werden können, sondern auf der Organebene zum Austrag
kommen. Die Daseinsanalyse würde vom „leiben“ der
Existenz und ihrer Konflikte sprechen. Dies macht begreiflich, wieso
über das „Loslassen“, untertützt durch
Imaginationen, der Leib gleichsam freigibt, was er an Konflikten
gebunden hat.
Der Atem ist zentrales Medium, der im „Aus“
„abwärts-einwärts“ führt. Im „Abwärts“
kommt das Trieb- und Eshafte zu seiner Geltung, reduziert sich das
„Außengeleitete“, wächst das Kontemplative,
erhält das Geistige Boden. Im „Einwärts“ ist
eine Zentrierung im Leib anvisiert, eine Öffnung für den
pulsierenden Leib. Es versteht sich daher fast von selbst, daß
in der F.E. nicht symptomorientiert gearbeitet wird. Vielmehr wird
die Leibhaftigkeit des Menschen als Ausdruck des ganzen Menschen
begriffen; er hat nicht nur einen Körper, er ist Leib.
Der Verlust des eigenen Rhythmus etwa im Verlauf der Erziehung,
führt zu „gnadenloser Monotonie“ (S. 144), um
gleichsam verzweifelt den „eigenen“ Rhythmus zu
bewahren. Dies führt allerdings zur „Sklerose“ der
leib-seelischen Existenz, damit zur Verwerfung der Existenz. Die
leibliche Manifestation dessen nennen wir psychosomatisch, indes
immer der ganze Mensch betroffen ist, im Begriff „psychosomatisch“
zusammengeführt werden soll, was vorher künstlich getrennt
wurde.
Methodisch kommen kleinste Bewegungsimpulse zum Einsatz, die
Reize an den sogenannten Proprioseptoren setzen, welche die
physiologische Voraussetzung für die Entstehung der
„Raum-Zeit-GEstalt“ unseres Körpers, des sogenannten
Körperschemas, sind. Solche kleinsten Bewegungen helfen äußerst
wirkungsvoll, den Menschen zu begrenzen, was gerade in der Therapie
sog. Frühstörungen sehr hilfreich ist.
In der heutigen Debatte um eine „leibfundierte
Psychotherapie“ (.z.B. Heisterkamp) kann die F.E. als wichtige
unterstützende Methode angesehen werden. Sei der dritten und
vierten Auflage ist der vorliegende Text um eine betrachtung von
Johnen und H. Müller-Braunschweig („Psychoanalytische
Aspekte der F.E.“) erweitert, die sog. frühe Störungen
berücksichtigt. Leider unterstreicht dies den etwas „ältlich“
anmutenden Text, da lediglich auf R. Spitz, J. Piaget und M. Mahler
rekrutiert wird, die gesamte moderne Säuglingsforschung nicht
berücksichtigt werden konnte. So fragt sich, ob der Text nicht
besser neu geschrieben worden wäre, statt ihn in sechster
Auflage vorzulegen. Anregend bleibt er allemal, zumal die F.E. „durch
die aktive Ausweitung auf den Leib (...) die Psychotherapie im
engeren Sinne (überschreitet) und (...) zur Therapie der Person“
(S. 20) und dadurch höchst modern wird. Inzwischen ist die
Wirksamkeit im Verbund mit tiefenpsychologisch fundierter
Psychotherapie nachgewiesen (siehe Psychotherapeutenjournal 2/2005, S.
134f).
©Bernd Kuck, Bonn
Februar 2006
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