Haarmann, Harald: Geschichte der Schrift. Verlag
C. H. Beck, München 2002, 128 Seiten ISBN 3406479987
Herr Haarmann gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern.
Einem größeren Publikum ist seine 1998 in vierter Auflage erschienene
"Universalgeschichte der Schrift" bekannt geworden. Laut Klappentext
sind von ihm ferner erschienen: "Kleines Lexikon der Sprachen" (2001)
sowie "Lexikon der untergegangenen Sprachen" (2002).
In der vorliegenden kleinen Schrift versteht es der Autor äußerst
kurzweilig und auch für den Laien gut nachvollziehbar, einen Einblick in die
Entwicklung einer der herausragendsten Kulturleistungen der Menschheit zu geben.
Die Entwicklung der Sprache kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Allein
die Überlegung, daß mittels der Sprache nun auch Begriffe gebildet werden
konnten, die Menschen gleichsam nicht mehr die Gegenstände in einem Rucksack
mit sich führen mußten, wenn sie darüber kommunizieren wollten. Das
Marschgepäck verkleinerte sich erheblich.
Aber Scherz beiseite. Haarmann schildert kurz und lebendig, wie sich unser
Alphabet aus den Vorstufen der vor 7000 Jahren üblichen Bilddarstellungen,
über die unterschiedlichen Schriftsysteme, entwickelt hat. Quasi nebenbei
erhalten wir einen Einblick in die Kulturgeschichte der Menschheit und in die
uns vorausgegangenen, inzwischen untergegangenen Hochkulturen.
Interessanterweise wurde durch die Korrektur der C14-Methode zur
Altersbestimmung mittels der sogenannten Dendrochronologie
(Baumrindenaltersbestimmung) eine Korrektur der Zeitbestimmung zu ersten
Schriftfunden notwendig. Bislang nahm man an, die Warenlisten auf Tontäfelchen
in Mesopotamien seien die ältesten Schriftfunde (ca. 3200 v.u.Z.). Durch die
Korrektur erscheinen bereits in der Donauzivilisation Schriftdokumente aus der
Zeit um 5300 v.u.Z. Ebenso werden Schriftzeichenfunde in Ägypten auf die Zeit
zwischen 3320 und 3150 v.u.Z. datiert und wären damit ebenfalls älter als die
der Altsumerer.
Die sich in Südosteuropa entwickelnde Zivilisation wurde von einer
Gemeinschaft getragen, die keine hierarchischen Strukturen zwischen den
Geschlechtern kannte! Der Status von Männern und Frauen war egalitär. In
gemeinschaftlicher Anstrengung wurde eine agrarische Gesellschaft aufgebaut, die
schon über urbane Großsiedlungen verfügte. Eine solche Hochkultur gedeiht
nur, wenn sie über Schriftsprache verfügt.
Daß nun gerade in der Donauzivilisation eine solche Entwicklung einsetzte,
erklärt man sich dadurch, daß in relativ kurzer Zeit eine Landflucht aus der
Region westlich des Schwarzen Meeres einsetzte, die wiederum durch den Bruch des
Riegels am heutigen Bosporus notwendig wurde. Diese Flutkatastrophe wird von den
Geologen auf ca. 5600 v.u.Z. datiert. Kurz danach, also um 5300 v.u.Z.,
entwickelten sich neue Siedlungen im Donautal, und die Dynamik muß beachtlich
gewesen sein.
"Aus diesem kollektiven Aufschwung entstand die älteste
Zivilisation der Welt an der Wasserstraße, die mit ihrem Verkehrsnetz ganz
Südosteuropa durchzieht." (19)
Wir erfahren einiges über die unterschiedlichen zur Anwendung
kommenden Schriftträger sowie über Kalligraphie. Besonders interessant ist
auch, daß die Annahme der phönizischen Schrift durch die Völker der
Mittelmeerländer auf freiwilliger Basis, "allein motiviert durch das
Prestige dieser neuen Technologie" erfolgte.
"Insofern ist das frühe Stadium der alphabetischen
Schriftadaptation im Mittelmeerraum ein anschauliches Beispiel für einen
Kulturtransfer ohne machtpolitische Implikationen. Die damaligen
interkulturellen Kontakte der Phönizier und ihr Schriftexport unterscheiden
sich deutlich von den späteren Trends der Verbreitung des lateinischen
Alphabets in den Provinzen des römischen Reiches oder von dem Zwangsexport
der Lateinschrift im Rahmen der kolonialistischen Expansionspolitik der
Europäer in Afrika, Amerika und Asien seit dem 16. Jahrhundert." (84)
Angesichts solcher Kulturleistungen graust es einen bei dem
jüngsten Spektakel der sogenannten Rechtschreibreform.
Bernd Kuck, Bonn, Oktober 2004
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