Hrdy, Sarah Blaffer: Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution. Berlin Verlag, Berlin 2000. 773 S., mit zahlreichen Abbildungen und Index, DM 68,-..
Wie Fromm nahmen mehrere Männergenerationen an, dass es für Mütter nichts Natürlicheres gebe, als sich aufopferungsvoll um den Nachwuchs zu kümmern, während der Mann in der Wildnis Tiere jagt oder im Großstadtdschungel die Brötchen verdient. Spätestens als vor 20 Jahren die französische Soziologin Elisabeth Badinter die Annahme eines unbedingten Mutterinstinkts als Phantasiegebilde bezeichnete und postulierte, Mutterliebe sei ein soziales Konstrukt, in das Mütter oftmals entgegen ihren eigenen Interessen hinein gedrängt werden, kam die These von der allliebenden Mutter ins Rutschen. Und tatsächlich sprechen Kindstötungen und Vernachlässigung von Säuglingen gegen die Hypothese eines von vorn herein festgelegten natürlichen Mütterverhaltens.
Wie so oft in der Geschichte der Wissenschaft erwuchs auch hier Fortschritt durch objektive Beobachtung, die an die Stelle von Wunschdenken rückte. Das Erforschen von Kindstötungen bei Primaten war lediglich der erste Schritt für Hrdy, die "weibliche Natur" und vor allem Mutterschaft zu begreifen. Eine geradezu explosionsartige Zunahme von Freilanduntersuchungen durch Wissenschaftler aus immer mehr Fachrichtungen enthüllte ein nie geahntes Ausmaß an Variabilität in der Naturgeschichte von Müttern. Hrdy selbst forschte und beobachtete 30 Jahren lang in sieben Ländern.
Kindstötung
Kindstötung ist kein angenehmes Thema. Es gab und gibt Fälle von Müttern, die nicht instinktiv für ihre Kinder sorgten. Das ist ein erstes Argument gegen die Annahme, Mütter seien für die Kinderaufzucht genetisch programmiert. Die Evolution, betont Hrdy, brachte Mütter nicht hervor, damit sie die Art erhalten. Das Produkt der Evolution waren Mütter, die ihren Aufwand in möglichst viele überlebende und sich ihrerseits fortpflanzenden Nachkommen stecken.
Kindstötungen bei Primaten wie bei Menschen sind weit verbreitet. Laut Hrdy haben wir es mit einer Art Geburtenkontrolle zu tun.
Findelkinder
Das zweite unangenehme Thema ist die Vernachlässigung und das Aussetzen von Babys, oft verbunden mit einer Präferenz für ein bestimmtes Geschlecht. Der Historiker John Boswell (New York 1988) befasste sich ausführlich mit dem Aussetzen von Kindern in Europa. Es handelte sich um eine weit verbreitete Praxis schon unter frühen Christen. Während der ganzen Zeit wurden Kinder in großer Zahl weggegeben oder ausgesetzt. Die Mehrheit der Frauen, die während der drei nachchristlichen Jahrhunderte in Rom lebten und mehr als ein Kind großzogen, haben mindestens eines ausgesetzt. Das summierte sich auf 20 bis 40 Prozent der geborenen Kinder. Boswell ist überzeugt, dass die Sterblichkeit unter den ausgesetzten Kindern nicht höher war als unter den normalen Kindern.
Hrdy ist anderer Meinung. Die Ausgesetzten wurden zwar großgezogen, aber meist als Sklaven oder Prostituierte verkauft. Ab dem 15. Jahrhundert verbessert sich die Datenlage und belegt eine enorme Sterblichkeit unter den weggegebenen Kindern. Von 15 000 Babys, die in den 18 Jahren von 1755 bis 1773 im größten Findelhaus der Toskana abgeliefert wurden, starben zwei Drittel vor ihrem ersten Geburtstag. Auch in anderen Ländern wurden Findelkindhäuser errichtet, in denen Tausende von Babys anonym abgegeben wurden, allein 15 000 in vier Jahren in einem Londoner Haus. Die Sterblichkeit war so hoch, weil es nicht genügend Ammen gab, die die Kinder säugen konnten. Die Findelhäuser wurden Zentren für Pocken, Syphilis und vor allem Ruhr. Die Kinder starben an Hunger oder an Durchfall.
Selektive Liebe
Zwischen dem Stereotyp der instinktiv und bedingungslos liebenden Mutter, wie sie sich Erich Fromm und viele andere Männer vorstellten, und den Müttern im wirklichen Leben lagen Welten. Die bedingungslose Hingabe ist für Affen- und Menschenaffenmütter charakteristisch, während die Fürsorge der menschlichen Mutter eher selektiv ist. "In Bezug auf Kindstötung und Vernachlässigung durch die Mutter ähneln Menschen nicht so sehr anderen Primaten, sondern eher den Vögeln und den Säugetieren, die mehrere Jungen zugleich haben." (Hrdy, S.513).
Was mag der Grund dafür sein, dass Mütter zu Mörderinnen werden oder den Mord Neugeborener zulassen oder ihre Kinder selektiv lieben? Mütter gehen Kompromisse ein, die ihren eigenen Lebenserhalt, die Bedürfnisse verschiedener Kinder und ihre eigenen künftigen Fortpflanzungspläne in Einklang bringen. Bei der Fortpflanzung entscheiden ökologische Begrenzungen über Qualität und Quantität der Nachkommen. Frauen wägen (unbewußt) ab zwischen der Anzahl der Nachkommen und der Chance, sie auf hohem Niveau durchzubringen. Menschen in besseren sozialen Verhältnissen weisen tendenziell eine niedrigere Geburtenrate auf. Sie müssen nicht "auf Vorrat" Kinder produzieren in der Hoffnung, eines werde schon am Leben bleiben, wenn die Chancen steigen, dass eines der wenigen sicher durchkommt und selbst ein gebärfähiges Alter erreicht. Dieses Verhalten mag im Widerspruch stehen zu konventionellen Erwartungen, reiche Eltern können unbesorgt mehr Kinder in die Welt setzen und durchbringen, es steht aber nicht im Widerspruch zu evolutionären Vorstellungen.
Allomütter
Eine der Hauptverbündeten der Mütter und ein Hauptelement im Abwägungsprozess sind die sogenannten "Allomütter", das sind all jene Personen außer Mutter und Vater, die Hilfe leisten, um Nachkommen aufzuziehen. Unter anderem mit der Rolle der Allomütter bei Primaten beschäftigt sich Hrdy, die 1946 in die texanische Oberschicht hinein geboren wurde. In jener Schicht, schreibt sie, war es schon seit Generationen nicht mehr üblich, dass Babys von ihren Müttern versorgt wurden; ihre Mutter übertrug die Erziehung an andere, an Kindermädchen.
Der britische Arzt und Psychoanalytiker John Bowlby zeigte, dass Babys genetisch programmiert sind, eine zuverlässige Bindung an eine feste Bezugsperson zu suchen und zu halten.
Mütter mussten immer schon das beste aus dem Vorhandenen machen und mit dem wechselnden Ausmaß an verfügbarer väterlicher oder alloelterlicher Hilfe zurechtkommen. Heute können sich viel mehr Mütter erlauben, jedes Baby zu lieben, dass sie auf die Welt bringen. Das ist besonders dann der Fall, wenn sie den Zeitpunkt der Geburt selbst festlegen und wenn sie alloelterliche Unterstützung erwarten können, um zumindest einen Teil ihrer eigenen ehrgeizigen Pläne zu verfolgen. Das bedeutet, dass Mütter nicht die reinen Engel sind, die ihre Babys vorbehaltlos lieben. Mütterliche Gefühle haben Nuancen, je nachdem, welche Kompromisse sie schließen müssen.
Aber was heißt "instinktiv"? Jedenfalls gibt es kein "Mütterlichkeits-Gen", doch wenn man ein bestimmtes Gen in Mäusen ausschaltet (fosB-Gen), haben diese nach der Geburt kein Interesse, sich um den Nachwuchs zu kümmern, der dann eingeht. Damit aber aus einem Gen und dem von ihm codierten Protein ein komplexer Handlungsablauf wird, bedarf es einer dialektischen Wechselwirkung zwischen Gen und Umwelt. Befruchtung, Schwangerschaft, veränderte Hormonlage, Geburt, Anwesenheit von Jungen, das gegenseitige Erkennen und Akzeptieren in einem oft schmalen Zeitfenster durch Geruch oder Aussehen (Prägung) sind notwendige Schritte und Vorbedingungen, um eine genetisch vorgesehene Fürsorglichkeit hervorzurufen. Aussehen, Duft und Fell von Primatenjungen wirken unwiderstehlich auf Weibchen, sobald sie empfängnisbereit sind. Davor und danach ignorieren sie Kleinkinder oder greifen sie an. Die bedingungslose Einsatzbereitschaft bei Affenmüttern setzt ein, wenn die Babys es schaffen, sich mit allen Vieren an sie zu klammern. Das fosB-Gen ist also nicht verantwortlich für Fürsorglichkeit, sein Fehlen bedeutet aber, dass in der Abfolge der Wechselwirkungen ein wesentlicher Schritt ausbleibt.
Männchen kümmern sich bei kaum einer Säugetierart im gleichen Maße um den Nachwuchs, wie es die Weibchen tun. Warum? Immerhin tragen sie genetisch gleich viel zum Nachwuchs bei. Väter kümmern sich am ehesten dann um ihren Nachwuchs, wenn sie sicher sein können, dass er von ihnen stammt, wenn das Kind ihnen vertraut ist, wenn ein Baby in unmittelbarer Nähe in Lebensgefahr ist und wenn er eine tragfähige Beziehung zur Mutter hat. Umgekehrt heißt das, Väter verschwinden, wenn sie ihrer Vaterschaft nicht sicher sind. Das setzt eine sexuelle Beziehung zur Mutter voraus und eine Abschätzung, ob sie zeitlich als Mutter des selbst gezeugten Kindes in Frage kommen. Nur bei einer Handvoll Primaten kann sich das Männchen wirklich sicher sein, dass er der Vater ist, alle anderen leben mehr oder weniger promiskuitiv mit sexuell aktiven Weibchen. Für jedes Kind, das ein Schimpansenweibchen zur Welt bringt, paart es sich im Durchschnitt 138 mal mit 13 verschiedenen Männchen.
Angesichts der realen Lebensgeschichten läßt sich nur schwer die Illusion aufrecht erhalten, die lebenslange monogame Familie sei naturgegeben. Monogamie ist laut Blaffer Hrdy ein Kompromiss mit Vorteilen vor allem für die Kinder. Indem die Männer ziemlich sicher sein können, dass die Kinder von ihnen sind, helfen sie ein bisschen mit, damit steigt die Überlebensrate des Nachwuchses und die Lebenserwartung der Partner ist höher. Die Frage, ob eine Frau mono- oder polygam ist oder wird, hängt von den Alternativen ab, die sie hat. Mätresse eines reichen Mannes zu sein ist möglicherweise die Alternative dazu, monogame Ehefrau eines ärmlichen Niemand zu werden und mit Kindern am Hals eine unsichere Existenz zu führen.
Beim Menschen können bestehende Unterschiede in der Betreuungsintensität durch bewußtes Bemühen minimiert werden, ebenso wie bestehende Unterschiede verstärkt werden. Dass Mütter eine intensivere Bindung eingehen liegt, wie Hrdy meint, an zweierlei: der angeborenen schnelleren Reaktionsweise der Mütter auf das Kind (Hrdy, S.253) und der Laktation, der Milchproduktion nach der Geburt. Mütter reagieren und handeln schneller, wenn das Baby sich rührt, der Vater kommt seltener zum Zuge, und so entwickelt das Baby eine primäre Bindung an die Mutter (254), was vorher schon durch die Laktation angebahnt wurde und später gefestigt wird. Die lange Verfügbarkeit von Muttermilch bis zu vier Jahre nach der Geburt und das Saugen ist ein ziemlich verläßlicher Garant jener langen Nähe, die zur Herstellung einer festen und verläßlichen Bindung nötig ist. Die Laktation erfordert es, dass ein Weibchen in der Nähe der Jungen bleibt. Die Laktation enthüllt sich Hrdy als Schlüsselelement für die Evolution von Tieren, die sowohl sozial als auch intelligent sind.
Das sich hingezogen Fühlen zu einem Baby ist in der westlichen Welt so weit verbreitet, dass angenommen wurde, es handele sich um ein Instinkt. Tatsächlich ist das Verhältnis der Mütter zu ihren Säuglingen komplizierter, wie allein schon Kindstötungen und Vernachlässigungen zeigen. "Instinktiv" bzw. "biologisch" sind die hormonellen Umstellungen während der Schwangerschaft, die Veränderungen während und nach der Geburt, die Reaktionsschleifen der Laktation und des Säugens sowie die kognitive Fähigkeit des Kindes, rasch eine enge Beziehung zu einer Person (meist der Mutter, wegen des Stillens) aufzubauen und einen Kreis von Menschen als Verwandte zu erkennen. "Aber fast keine dieser biologischen Reaktionen erfolgt automatisch." (S.435) Die Biologie wird verkompliziert durch kulturelle Erwartungen, Geschlechterrollen, Ehr- und Schamgefühle, Präferenzen bezüglich des Geschlechts des Kindes sowie der Vorstellung der Mutter von der Zukunft. Die wahrscheinlichen Kosten und der potenzielle Nutzen einschließlich der zu erwartenden allomütterlichen Unterstützung in einem familiären Netzwerk sind Faktoren, die in die Frage einfließen, wieviel die Mutter "investieren" wird. Für die Zuwendung der Mutter zum Baby bedeutet es dabei ein Unterschied wie Tag und Nacht, ob der Vater in der Nähe war oder die Familie verlassen hatte, ob die Mutter auf sich selbst angewiesen war oder sich an ihre Familienangehörigen wenden konnte, ob es jemand gab, der als Babysitter zur Verfügung stand, oder nicht.
Mütterliche Schuldgefühle
Es darf also nicht verwundern, wenn sich Gefühle der inneren Zerrissenheit, des Ungenügens und der Schuld einstellen. Auf Frauen, die ehrgeizig sind oder einfach nur arbeiten müssen, lasten Selbstzweifel. Wer gab meinem Kind Geborgenheit, wenn ich außer Haus war? Habe ich meinem Kind die Liebe gegeben, die es braucht? Wie werden die langfristigen psychologischen Folgen der Trennungen sein? Sie rühren ständig an Problemen, für die es keine optimale Lösung gibt. Simone de Beauvoir warnte vor der Versklavung der Mütter, vor einer Rolle, in der sie einfach bloß Gefangene der Bedürfnisse ihres Kindes sind, wo talentierte Frauen ihre Karriere in einem anspruchsvollen Beruf aufgeben, und nicht, wie die Prinzessin Alcharisi in dem Roman Daniel Deronda von George Eliot, ihr Kind weggeben, um ihr künstlerisches Talent zu entfalten.
Andererseits ist es offenkundig, dass sich Kinder prächtig entwickeln können, die von berufstätigen Müttern aufgezogen werden. Bowlbys Bindungstheorie gilt nicht absolut, wenngleich nichts gegen seine Grundthese einzuwenden ist, dass Menschen- und andere Primatenkinder nach der Geburt eines besonderen Schutzes bedürfen. In ihrem Wunsch, im Arm gehalten zu werden und sich in der Gewißheit zu aalen, dass sie geliebt werden, sind menschliche Kinder fast unersättlich. Aber was bedeutet das für die Mütter? Es gibt wenig Beispiele in der Natur, die dem weiblichen Geschlecht die Rolle einer Vollzeithausfrau und -mutter vorschreiben würde. Man weiß heute viel mehr über Jäger- und Sammler-Völker, bei denen die Kinder von Geburt an mehrere Betreuer haben, zu denen sie enge Beziehungen entwickeln. Menschliche Allomütter sollte man sich nicht als weißhaarige alte Damen beim Kaffeekränzchen vorstellen, sondern als zähe und gewiefte Frauen, die einfach über mehr Erfahrung verfügen und mehr Pflanzen und Knollen anschleppen als andere, um Enkel und weibliche Verwandte mit zu versorgen.
Dieses Werk kann mit vollem Recht als grundlegend und bahnbrechend bezeichnet werden. Mutter Natur ist geeignet, radikal die gängigen Ansichten zur Mutterschaft und der Mutter-Kind-Beziehung zu verändern. Es ist eines jener herausragenden Bücher, die einen dazu zwingen, alles zu überdenken, was einem zuvor an Wissen ans Herz gewachsen war. Ausgezeichnet formuliert als auch tadellos übersetzt bestätigt Hrdy erneut die offenbar uneinholbare Führungsrolle angloamerikanischer Autoren in der Wissenschaftspublizistik; aus dem deutschen Sprachraum ist kein vergleichbares Buch bekannt.
Gerald Mackenthun, Berlin
November 2000
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