Renate Kingma (Redaktion): Mit gebrochenen Flügeln fliegen ...
Menschen berichten über bipolare Störungen.
Hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Bipolar Störungen
e.V., Hamburg 2003, 296 S., 28,00 Euro
Unter den Hunderten von psychischen Störungen (von den
Tausenden von somatischen Krankheiten ganz zu schweigen) hat sich die Deutsche
Gesellschaft für bipolare Störungen die manisch-depressive Störung
herausgesucht, um sie in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und
um Verständnis für ihre Patienten zu werben. Gegen die intensive
Beschäftigung mit einem einzigen, engen Gegenstand ist nichts einzuwenden;
die Medizin wie die Psychologie leben seit längerem mit einer zunehmenden
Spezialisierung. Und doch gibt es einige Merkwürdigkeiten bei dem
Bestreben, Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, mit dem der größte
Teil der Bevölkerung kaum je in Berührung kommt.
Es ist unter Fachgesellschaften üblich geworden, dabei ein bestimmtes
Schema einzuhalten. Der erste Teil des Schemas besteht im Aufblähen
der Betroffenengröße. Die Deutschen Gesellschaft für Bipolar
Störungen (DGBS) selbst nennt unterschiedliche Zahlen: der harte Kern
von Manisch-Depressiven mache etwa ein Prozent der Bevölkerung aus
(das wären 800 000), dann ist von zwei oder vier Prozent die Rede,
es werden aber auch "neueste Forschungserkenntnisse" zitiert, die eine
Prävalenz von 8 Prozent (rund 6,4 Millionen) nahe legen. Die WHO behauptet
eine weltweit "dramatische Zunahme" dieses Leidens und nennt eine Prävalenz
von 2,5 Prozent unter den 15- bis 44-Jährigen und eine aktuelle Erkrankungsrate
von 0,4 Prozent zu einem gegebenen Zeitpunkt (http://www.who.int/whr2001/2001/main/en/pdf/chapter2.en.pdf).
Das klingt doch etwas anders als das, was die DGBS verlautbart. Mindestens
jeder vierte Patient unternehme einen Suizidversuch, jeder fünfte
davon sei erfolgreich, warnt der Verband - aber bezogen auf welche Erkrankungsrate?
Der zweite, mit schönster Regelmäßigkeit wiederkehrende
Punkt ist die Blamierung der Hausärzte. Es gibt praktisch keinen medizinischen
Fachverband, der nicht die Hausärzte als schwächstes Glied in
der Versorgungskette anschwärzt. Sie seien schlecht geschult und würden
die Erkrankung meist nicht erkennen und damit auch nicht zum Facharzt,
dem einzig kompetenten Menschen in einem Volk von Ignoranten, überweisen.
Beklagt wird in diesem Zusammenhang auch gern das Fehlen eines entsprechenden
Hochschullehrstuhls und die mangelhafte Ausbildung der Studenten. Im Fall
der bipolaren Störungen heißt es mit allen Anzeichen der Empörung,
nur zehn Prozent der Erkrankten (von 0,4 Prozent, 8 Prozent?) würden
jemals Kontakt zu einem Nervenarzt haben und nur die Hälfte würde
überhaupt einen Arzt aufsuchen. Doch was sind die Gründe?
Entweder ist die Krankheit nicht so ausgeprägt, als dass der Betreffende
einen Arztbesuch für angebracht hält. Vieles gibt sich auch wieder
von selbst. Oder es ist die Art der Erkrankung, die einen Arztbesuch erschwert.
Und in der Tat ist die bipolare Störung eine, deren manische Phase
durch Selbstüberschätzung und Euphorie gekennzeichnet ist, die
in Gereiztheit umschlagen, wenn der manische Patient Widerspruch erfährt.
Die richtige Diagnose kann zudem meist nur mittels längerer Beobachtung
des Patienten gestellt werden, weil doch erst einige Phasen des trügerischen
Hochgefühls und der Depression sichtbar werden müssen,
um das Spezifische der bipolaren Störung zu erkennen.
Die Zahl der Betroffenen kann also durchaus wesentlich niedriger angesetzt
werden, als die DGBS angibt, und die Kritik an den Hausärzten geht
an den Tatsachen vorbei. Ein nicht befriedigender Informationsstand mag
vorhanden sein, die Unterdiagnose hat aber zumindest weitere gewichtige
Gründe, die in der Besonderheit der Krankheit liegen und unumgehbar
sind. Die kritikwürdige Spätdiagnose teilt die bipolare Störung
mit einer großen Anzahl weiterer Krankheiten und ist kein Spezifikum.
Brauchen die bipolaren Störungen mehr Öffentlichkeit? Auch
bei anderen psychischen und somatischen Krankheiten, die in der Öffentlichkeit
auf Unverständnis stoßen, wäre eine öffentliche Aufklärung
angezeigt. Mit wie viel Krankheitsbilder kann man die Bevölkerung
konfrontieren? Zehn oder fünfzig oder hundert? Wie sollen fünfzig
oder hundert Krankheitsbilder parallel kommuniziert werden? Schon die Nachrichtensendungen
brechen beim zwölften Thema ab, mehr kann ein normaler Mensch nicht
aufnehmen. Die Forderung nach Verständnis und Toleranz ist anwendbar
auf viele andere psychische Erkrankungen - ebenso auf somatische Erkrankungen
wie beispielsweise Aids. Fast jeden Tag haben wir hierzulande irgendeinen
"Tag der ..." (Schizophrenie, Alzheimer, MS etc.). Die Gedenktage beginnen,
sich gegenseitig zu erschlagen und aufzuheben; Sättigung und Überdruss
stellt sich ein.
Die DGBS fordert öffentliche Aufklärung, "nur dann kann die
Krankheit von nichtbetroffenen Menschen richtig eingeschätzt werden".
Ich behaupte, dass es nicht Aufgabe der Normalbevölkerung sein kann,
eine seltene psychische Erkrankung, mit der schon Fachärzte ihre Mühe
haben, "richtig einzuschätzen". Die richtige Einschätzung ist
auch nicht Voraussetzung dafür, dass Kranke mitfühlend angenommen
werden. Ausgrenzung ist keine Frage des medizinischen Wissens, sondern
eine der fehlenden Toleranz oder unbegründeten Angst. Eine allgemeine
Mitmenschlichkeit scheint ausreichend, um Kranken verständnisvoll
und hilfreich zu begegnen. Das von der Frankfurter Wissenschaftsjournalistin
Renate Kingma redaktionell betreute Buch "Mit gebrochenen Flügeln
fliegen..." vereint die Kranken- und Lebensgeschichten von 45 Menschen,
die durch die Hölle bipolarer Störungen gegangen sind, und ist
als psychiatrisches Lehrbuch und Falldokumentation der besonderen Art geeignet,
dieses Verständnis zu fördern.
Gerald Mackenthun
Berlin, Oktober 2003
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Mit gebrochenen Flügeln fliegen......