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Rühle-Gerstel, Alice: Freud und Adler. Elementare Einführung in Psychoanalyse und Individualpsychologie. Dresden 1924, Reprint Zürich 1989 


1924 erschien der kleine, gerade einmal 100 Seiten umfassende Band Freud und Adler, in welchem Alice Rühle-Gerstel (Prag 1894 - Mexiko 1943) die Theorien der beiden Pioniere der Tiefenpsychologie vorstellt und ihre Relevanz für die Beseitigung von Neurosen diskutiert. Alices Herz schlug für Alfred Adler und die Individualpsychologie, doch das Kapitel über Freud und die Psychoanalyse ist überaus fair und sachlich gehalten. In einem Einleitungskapitel rekapituliert sie die kurze Geschichte der Psychologie, die entweder Psychiatrie oder experimentelle Psychologie, also materialistisch orientiert war. Mit Freud und Adler betraten nun zwei Männer die Bühne, die Erklärungen für den Zwischenbereich der Neurose lieferten. Neurotiker, führte Rühle-Gerstel aus, sind weder normal noch krank, leiden aber an einer „Lebenshemmung". Beide Forscher hätten in eminenter Weise zur theoretischen Erforschung und praktischer Erweiterung des menschlichen Bewußtseins beigetragen. Sie seien aus der Geschichte des menschlichen Geistes nicht mehr wegzudenken.

Im zweiten Kapitel stellt sie knapp die geistige Entwicklung Freuds dar mit den zentralen Begriffe der Verdrängung, des Widerstandes und der Übertragung. Der Normale verarbeitet seine sexuellen Triebe, der Perverse befriedigt sie und der Neurotiker verdrängt sie. Die Not mit der Sexualität sei allzu menschlich, denn die Realität erzwinge nur zu oft einen Verzicht. Durch eine psychoanalytischen Therapie sollen unbewußte Libido („sexueller Hunger") und vernünftig-bewußte Ichtriebe Frieden miteinander schließen.

Im dritten Kapitel geht Rühle-Gerstel auf die Individualpsychologie ein, die nicht nur nach dem Woher einer Neurose, sondern auch nach ihrem Wohin fragt. Ziel des Nervösen sei es, mächtig, groß, überlegen und heldenhaft zu werden, um seine Minderwertigkeitsgefühle zu beschwichtigen. Wenn diese Protesthaltung gegen das Leben nichts fruchtet, zieht sich der Nervöse enttäuscht zurück; der Mißerfolg ließ ihn mutlos werden. Sein „Machtstreben" läßt ihn eine Doppelrolle von schwachem Ich und unantastbarem Ichideal leben. Der Strich zwischen Gesunden und Kranken ist nur schwer zu ziehen, betont die Autorin. Der Faktor, der den Ausschlag herbeiführt, ist der Grad des vorhandenen Gemeinschaftsgefühls.

Das vierte Kapitel trägt den Titel „Vergleich und Kritik". Gemeinsam ist den Schulen die Grundannahme, dass nervöse Erscheinungen nicht körperlich verursacht seien, ihr Ursprung vielmehr im Unbewußten zu suchen ist. Im Unbewußten lagern vor allem vergessene, verdrängte oder unerfüllte Kinderwünsche. Mittels freier Gedankenentfaltung und Assoziationen zu Träumen kommt man in einer Therapie zum Unbewußten, das bewußt gemacht und korrigiert werden kann. Im übrigen aber unterscheiden sich die beiden Richtungen weitgehend, vor allem die Rolle der Sexualität wird gänzlich unterschiedlich gesehen.

„Bei Adler ist die Sexualität nicht Verursacherin von psychischen Verhaltensweisen und Konflikten, sondern nur ein, wenn auch vorwiegend verwendetes Ausdruckmittel für andere seelische Vorgänge." (S.75)

Damit rüttelte Adler an den Grundfesten der Psychoanalyse. Im Grunde geht es um die Frage von Henne oder Ei, Ursache oder Wirkung: Machen fehlende Sexualität oder verbotene Triebe Angst - oder führt ein verschrobener Lebensplan zu Angst vor Sexualität?

Die biologische Sichtweise hält Rühle-Gerstel für nicht plausibel. Sexuelle, aber frustrierte Wünsche seien oft durchaus bewußt und unterlägen keineswegs immer der Verdrängung. Und wenn verdrängt werde, dann sei das keine Ursache, sondern eine Folgeerscheinung der früh angebahnten Neurose, d.h. eines verfehlten Lebensstils und eines zu schwachen Gemeinschaftsgefühls. Auch die Auffassung von der Libido als Energiemenge, die in der Therapie in vernünftige Bahnen (d.h. ehelichen Geschlechtsverkehr) gelenkt werden soll, erschien ihr nicht überzeugend. Adler glaubte, mit der Erweckung des Gemeinschaftsgefühls würden sich alle Probleme lösen, auch die in der Sexualität.

„So scheint es, daß die individualpsychologische Therapie mehr Menschen helfen und besser helfen könne als die psychoanalytische. (...) nach dem gesagten scheint es, als ob die Freudsche Therapie den Kranken aus einem dunklen, stickigen in ein helles, freundliches Zimmer versetzen könne, während die Adlersche Therapie die Tore weit aufreißt mit der Ermunterung: die ganze schöne Welt liegt offen vor dir da!" (S.88/89)

Damit sei Adler ein „geistiger Vorbereiter des Sozialismus". Er schien ihr viel mehr geeignet, das Individuum wie die Kultur mit neuem Blick anzusehen und mit frischem Leben zu erfüllen, während Freud nur nach rückwärts schaut und von Gegenwart und Zukunft nichts gutes erwartet.

Als vergleichende Einführung in die Theorien von Freud und Adler ist das Buch auch heute noch mit Gewinn zu lesen.

Gerald Mackenthun, Berlin
Dezember 2000

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