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Brachfeld, Oliver: Minderwertigkeitsgefühle beim Einzelnen und in der Gemeinschaft. 2. Aufl. Quercus Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-935271-02-6


Es gibt wohl kaum ein Konzept, das von so zentraler Bedeutung für die Individualpsychologie Alfred Adlers ist, wie das vom Minderwertigkeitsgefühl und seiner Kompensation durch das Streben nach Geltung bzw. Vollkommenheit. Über dieses Kernstück der Adlerschen Lehre hat der Adler-Schüler Oliver Brachfeld bereits Ende der 30er Jahre eine in der Fachwelt berühmte Monographie geschrieben, die in Spanien, Frankreich und England in mehreren Auflagen erschienen ist. In Deutschland dagegen war man im Erscheinungsjahr 1953 weniger mit Psychologie als mit Nachkriegsproblemen wie Wiederaufbau, Ernährung und Wohnen beschäftigt. Vor allem waren die Individualpsychologen aufgrund der NS-Verfolgung großenteils - wie Brachfeld selbst - emigriert. Kein Wunder, dass das Buch damals hier keine angemessene Aufnahme fand. Umso verdienstvoller ist es, dass ein solcher Klassiker nun in 2. Auflage herausgebracht wird.

Brachfeld war ein Psychologe mit umfassenden Kenntnissen in Sprachen, Literatur, Kunst, Philosophie, Soziologie und Ethnologie. Er wollte nicht nur psychische Phänomene beim Einzelnen erforschen, sondern auch ihre Vorläufer in Literatur und Philosophie sowie ihren soziologisch-historischen Hintergrund. So beginnt er auch dieses Buch mit der „Geschichte eines Ausdrucks und einer Idee“ und entdeckt Vorläufer des Minderwertigkeitsgefühls bei Montaigne, Shakespeare, Rousseau, Mandeville, Vauvenargues, Stendhal u.a. Nach einer Würdigung von Pierre Janets sentiment d‘incomplétude (Gefühl der Unvollständigkeit) als Vorläufer des Minderwertigkeitsgefühls innerhalb der Psychologie beginnt Brachfeld mit der Darstellung von Adlers Konzept. Ausgehend von der Organminderwertigkeit und ihren Kompensationen entdeckte Adler rein subjektive Gefühle der Minderwertigkeit, das heißt der Unzulänglichkeit, Unsicherheit und Ohnmacht. Er fand ihren Ursprung in der Natur des Menschen, in seiner langen Kindheit, in der er von Betreuung abhängig ist und vielfältige, schwierige Lernprozesse zu bewältigen hat, an deren Anfang immer das Erlebnis des Nichtkönnens steht. Das quälende Gefühl der Minderwertigkeit ist nach Adler eine Quelle unablässiger Bestrebungen nach Überwindung und Kompensation und wird so zu einem Ansporn zu Wachstum und Entwicklung. Brachfeld untersucht die biologischen, psychologischen und psycho-sozialen Unzulänglichkeiten beim Neugeborenen, die Entstehung des Selbstwertgefühls und das Phänomen von Kompensation und Überkompensation, wobei er auch „kompensatorische Großfunktionen der abendländischen Kultur und Zivilisation“ einbezieht. Brachfeld wendet sich dann den vertieften Minderwertigkeitsgefühlen - den „Minderwertigkeitskomplexen“ - zu, die meist infolge ungünstiger Bedingungen in der Kindheit entstehen und zu einem Streben nach Überlegenheit „auf der unnützlichen Seite des Lebens“ (Adler) führen: zu Neurose, Kriminalität, Perversion usw. Untersucht werden darüber hinaus Minderwertigkeitsgefühle in den Bereichen Arbeit und Sexualität unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen sowie die „Psychogenese der Kunst und Minderwertigkeitsgefühle“.

Besondere Aufmerksamkeit zog das Buch seinerzeit wegen der Erörterung der kollektiven Minderwertigkeitsgefühle in den Kapiteln „Rassen-Minderwertigkeitsgefühle“, „Der jüdische Minderwertigkeitskomplex“ sowie „Nationale Minderwertigkeitsgefühle oder die Ethnopsychologie der Komplexe“ auf sich. Diese Erweiterung des Begriffs, die schon in Adlers Lehre angelegt war, konnte von Brachfeld wegen seiner weitläufigen soziologischen und sozialpsychologischen Interessen systematisch ausgearbeitet werden. Brachfeld sagt: „Anderssein erzeugt Minderwertigkeitsgefühle“. Das Anderssein kann an sehr verschiedene Merkmale anknüpfen wie Rasse, Hautfarbe, Nation, Geschlecht, Alter usw. Die betroffenen Gruppen reagieren wie die Individuen mit Kompensation oder Überkompensation. Bei produktiver Bewältigung kommen besondere Kulturleistungen zustande; so spielen z.B. die Juden eine viel größere Rolle in der modernen Gesellschaft, etwa in Kunst und Wissenschaft, als ihrem zahlenmäßigen Anteil entspricht. Bei unproduktivem Streben nach Überlegenheit entstehen Ressentiment, Vorurteil, Hass auf die gegnerische Gruppe usw.

Auch bei dieser Thematik ist man erstaunt über die bleibende Aktualität des Werkes. Die umfassende Darstellung aller Aspekte des Minderwertigkeitsgefühls entspricht der Bedeutung dieses grundlegenden Begriffs nicht nur für die Psychologie, sondern auch für Kultur und Gesellschaft.

Die Neuausgabe wurde um ein Personenregister ergänzt und mit einer Einführung versehen, in der der Leser über Leben und Werk des bedeutenden, aber hierzulande wenig bekannten Autors umfassend informiert wird.

  Gerald Bühring   
Berlin, im Juni 2002

 

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