Bühring,
Gerald. William Stern oder Streben nach Einheit. Frankfurt/M: Peter Lang
Verlag, Beiträge zur Geschichte der Psychologie; Band 13, 1996, 252 S.
Die vorliegende Arbeit stellt eine Einführung in Leben und Werk eines Mannes dar, der die
psychologische Landschaft Deutschlands in den ersten drei Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts entscheidend prägte. William Stern war damals berühmter als
Sigmund Freud, seine Bücher erreichten hohe Auflagen, wurden in mehrere
Sprachen übersetzt und fanden auch im Ausland große Beachtung. Bühring
begleitet Stern auf dessen Lebensweg und gibt einen Überblick über die
literarische und praktische Tätigkeit dieses Mannes. Kein leichtes
Unterfangen, wenn man bedenkt, dass Stern sehr vielseitig und produktiv war:
Er verfasste über 40 Bücher, schrieb mehr als 200 Zeitschriftenartikel und
war Mitherausgeber von 7 Fachzeitschriften. Im In- und Ausland hielt er über
100 Vorträge. Er gründete zahlreiche psychologische Vereine, u.a. das
Berliner Institut für angewandte Psychologie (1906).
In der Nachkriegszeit war William Stern fast in Vergessenheit geraten. Erst in den
letzten Jahren haben Psychologie-Historiker seine Biographie und die
wissenschaftliche Auswertung seines Werkes wieder auf genommnen. Bührings
Buch ist als Beitrag zur Rehabilitierung Sterns und als Würdigung seiner
Verdienste zu verstehen. Außerdem dient diese Studie “in Anbetracht wieder
aufflackernden Antisemitismus als Solidaritätsbeitrag für unsere jüdischen
Mitbürger“.
Stern wurde am 29.4.1871 in Berlin geboren und wuchs wohlbehütet in einem jüdisch-bürgerlichen
Milieu als Einzelkind auf. Seine Mutter Rosa Stern war die Tochter des religiösen
Reformators Sigismund Stern (1812 - 1867), der für den jungen Stern Vorbild
wurde. Sterns Vater war der im kaufmännischen Bereich tätige und wenig
erfolgreiche Sigismund Stern (1837 - 1890). Der junge Stern ist
wissensdurstig, strebt nach philosophischer und wissenschaftlicher Erkenntnis
und verfolgt ehrgeizige Ziele. Dem Großvater nacheifernd, über den Vater
hinausstrebend, die enge Welt des religiösen Judentums hinter sich lassend,
träumt und arbeitet er sich zäh die akademische Stufenleiter hinauf. Nach
dem Besuch des Gymnasiums studiert er an der Friedrich-Wilhelm-Universität
Philosophie und Psychologie. Mit 22 Jahren promoviert er, mit 27 Jahren
habilitiert er sich. 1897 geht er nach Breslau, wo er an der dortigen
Universität zunächst als Privatdozent, dann als Extraordinarius Philosophie
und Psychologie lehrt. Er ist Mitbegründer der “Gesellschaft für
experimentelle Psychologie“ (1904), deren Präsident er 1931 wird.
Mit der
Veröffentlichung seines Buches “Differentielle Psychologie in ihren
methodischen Grundlagen“ (1911) wird die Geburtsstunde der differentiellen
Psychologie in Deutschland eingeläutet.
Mit dem Buch “Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten
Lebensjahr“ (1914) wird Stern auch auf internationaler Ebene bekannt.
Das Buch gilt als sein populärstes und basiert auf Tagebuchnotizen, die er
mit seiner Frau Clara über ihre drei Kinder Hilde (geb. 1900), Günther (geb.
1902) und Eva (geb. 1904) angefertigt hat. Minutiös protokollierten sie die
kleinen und großen Lebensäußerungen ihrer Kinder wie z.B. deren Sprache,
Spiel, Phantasie, Willen, Intelligenz, Gefühlsleben, Ausdauer und die künstlerische
Begabung.
1916 zieht die Familie nach Hamburg, wo Stern bis 1933 Ordinarius für Philosophie, Psychologie und Pädagogik
am Hamburger Psychologischen Institut ist. Wichtige Publikationen von Stern
sind auch das dreibändige Werk “Person und Sache“ aus den Jahren 1906,
1918 und 1924 sowie “Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die
Methode ihrer Untersuchung“ aus dem Jahre 1920. Das letzte große Werk, die
“Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage“ erscheint 1935.
Sterns Wirken fällt in eine Zeit, in der sich die Psychologie als Wissenschaft zunehmend
etablierte. Die Anwendung psychologischer Erkenntnisse in der Praxis war seine
Domäne. Er ist der Schöpfer des heute noch gebräuchlichen
Intelligenzquotienten, und er konzipierte Testverfahren zur Auslese begabter
Schüler und zur Berufseignung. Weitere Forschungsbereiche umfassten die
forensische- und die Jugendpsychologie. Im Erziehungswesen unternahm er gehörige
Anstrengungen, um seine reformpädagogische Gedanken zu popularisieren. Zum
Beispiel forderte er 1911 erstmals den hauptamtlichen Schulpsychologen.
Der Titel der Biographie weist darauf hin, dass Stern nach Einheit strebte. In Anlehnung an
Hegels dialektische Methode versuchte er, gegensätzliche Standpunkte
miteinander zu vereinigen, u.a. die Themen Natur- und Geisteswissenschaft,
Empirismus und Nativismus, Person und Welt, Kausalität und Finalität. Doch
reicht seine Denkweise über ein einfaches Synthetisieren hinaus. Denn
wirkliches Erkennen bedeutet seiner Ansicht nach “die phänomenalen Elemente
in ihrer Bedeutung für die Ganzheit (z.B. die Person) und von dieser her“
zu verstehen.
Sterns wissenschaftliches Streben nach Einheit und Harmonie sowie sein Glaube an das
Gute im Menschen scheinen ihn jedoch gegen den ständig wachsenden “brauen
Terror“ blind gemacht zu haben. Um so tragischer war daher seine Vertreibung
1934 aus Deutschland. Die Auswanderung nach Amerika und seine Tätigkeit als
Gastprofessor konnte ihn nicht darüber hinwegtrösten, dass er alles verloren
hatte, was ihm lieb und teuer war: seine Heimat, seine Freunde, seinen
Arbeitsbereich. Gebrochenen Herzens starb Stern 1938 an ein Herzinfarkt.
Die Besonderheit der vorliegenden Studie liegt in der detaillierten Darstellung, sowohl des Werkes
als auch der Biographie Sterns. Sie ist in einem erzählenden Stil verfasst und
für den Leser leicht zugänglich. Bühring hat eine Reihe bisher unveröffentlichter
Dokumente, Briefe und Photos ausfindig gemacht. Interessierten, die sich in
Sterns Werk noch mehr vertiefen wollen, bleibt allerdings das Lesen im Original
nicht erspart. Dann öffnet sich ihnen eine Fülle wissenschaftlicher
Erkenntnisse, die teilweise heute noch sehr aktuell sind.
Dipl.-Psychologe Dr. Najib Arabu, Berlin
direkt bestellen:
William Stern oder Streben nach Einheit