Cardinal, Marie: Schattenmund. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek, 24. Auflage 2001, französische Erstausgabe Paris 1975,
220 Seiten
In letzter Zeit wird immer wieder die Wirksamkeit psychoanalytischer
Psychotherapie in Frage gestellt. Wer nun etwas über die Wirkmächtigkeit
psychoanalytischer Behandlungen erfahren möchte, der befrage nicht vorrangig
sogenannte Wirksamkeitsstudien, sondern lese, was wortmächtige Autorinnen berichten, soweit sie eine Psychoanalyse durchlaufen haben.
Marie Cardinal, 1929 geboren und in Algier aufgewachsen, studierte in Paris
Philosophie. Sie heiratete 1953 und bekam in vier Jahren drei Kinder. 1953 bis
1960 lehrte sie an Auslandsgymnasien. Im vorliegenden Text erzählt sie die
Geschichte ihrer Analyse, die sie mit Dreißig beginnt und nach sieben Jahren
beendet. Sie litt unter mysteriösen Blutungen im Genitalbereich, sowie unter
Halluzinationen, worunter ihr ein normales Leben nicht möglich war, sie
vollkommen zurückgezogen mehr vegetierte als lebte. Ärztliche Hilfe war nicht
zu erhalten, bzw. ohne Erfolg. Ein Leben in der Klinik oder unter Medikamenten
schien ihr nicht lebenswert und sie wurde zunehmend suizidal. Auf Empfehlung
suchte sie einen Psychoanalytiker in Paris auf, der sie als erstes darauf
hinwies, sie solle alle ihre Lektüre über Psychoanalyse vergessen, sich ganz
auf das Geschehen in der Behandlung einlassen.
"Die Sackgasse ist schlecht gepflastert, voller Löcher und Buckel, die
schmalen Trottoirs sind verwahrlost. Wie ein riesiger Finger zwängt sie sich
durch dicht gedrängte, ein- bis zweistöckige Häuser. Am Ende stößt sie
gegen einen Maschendrahtzaun, mit schäbigem Grün überwuchert."
Die ersten Sätze, sie lesen sich wie eine Kurzfassung des Romans, sind ein
Abbild des Weges, der vor ihr liegt. Sie selbst befindet sich in einer
Sackgasse, voller Löcher ist ihr Selbstbild, Buckel hindern sie an der
Selbsterkenntnis, und auf schmalen Wegen tastet sie sich voran, um die Rätsel
ihrer Existenz zu entziffern. Mühselig muß sie die Überwucherungen ihrer
persönlichen Geschichte, die überwucherten Kränkungen der Verdrängung
entreißen, um schließlich den Maschendrahtzaun ihres inneren Gefängnisses
einreißen zu können.
Es begegnet ihr ein kleiner unscheinbarer Mann, der während der folgenden
Behandlung wenig spricht, jedoch zielsicher den metaphorisch riesigen Finger auf
die Nebenbemerkungen legt, sie zum freien Assoziieren ermuntert und so oft genug
Erinnerungsbilder freilegt, die schmerzlich aber befreiend wirken.
Der Roman steht in einer Reihe mit dem Bericht über die Behandlung bei
Frida Fromm-Reichmann ("Ich hab' dir nie einen Rosengarten
versprochen"), ebenso packend und erschütternd. Möglicherweise haben wir
es mit Dokumenten einer aussterbenden Art der zwischenmenschlichen Begegnung zu
tun, Dokumente, aus denen jede Zeile Engagement und Anteilnahme atmet. Hier wird
der Mensch im wahrsten Sinne neu geboren, seine eigentliche, seine zweite
Geburt. Wer etwas über Psychoanalyse erfahren möchte, etwas über die
Wirkmächtigkeit der psychotherapeutischen Beziehung, der wird hier fündig. Es
ist äußerst erfreulich, daß der vorliegende Text schon in 24. Auflage
erschienen ist.
Bernd Kuck, Oktober 2004
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Marie Cardinal: Schattenmund