Günter Gödde: Mathilde Freud. Die älteste Tochter
Sigmund Freuds in Briefen und Selbstzeugnissen
Psychosozial Verlag Edition Kore, Gießen 2002, gebundene Ausgabe,
388 Seiten, mit mehreren Abbildungen, 29,90 Euro
Mathilde Freud, die älteste Tochter Sigmund Freuds, stand
bislang im Schatten ihrer jüngeren Schwester Anna und natürlich
in dem des übermächtigen Vaters. Es ist dem Berliner Psychotherapeuten
und Psychoanalyseexperten Günter Gödde zu verdanken, dass er
in einer ausgezeichneten Edition das Leben Mathildes rekonstruiert, und
zwar ausgehend vom Fund einiger ihrer Jugendbriefe an einen guten Freund,
Eugen Pachmayr. In diesen ihren Briefen spricht sie mit eigener Stimme
und wird nicht nur, wie damals üblich, aus der väterlich-patriarchalen
Perspektive kommentiert. Die Briefe Mathildes und auch ihr Konzert- und
Theaterbüchlein, das konkret Aufschluss gibt über die Bildungsbeflissenheit
einer höheren Tochter Wiens vor über 100 Jahren, wird vollständig
dokumentiert. Gödde gelingt es damit, ein Stück Kulturgeschichte
der weiblichen Adoleszenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebendig zu machen.
Die fehlende berufliche Perspektive ist ein Kernstück weiblicher Sozialisation
des Bildungsbürgertums der damaligen Zeit. Später jedoch wurde
sie, und das ist erstaunlich, im Londoner Exil eine erfolgreiche Modedesignerin
und Geschäftsfrau. Gödde geht weiterhin auf Freuds Vaterrolle
und seine "Ehepolitik" ein. Sein Frauenbildes und seine Rollenerwartungen
an seine Töchter waren von erheblichem Einfluss auf die Selbstwahrnehmung
und das Verhalten seiner Töchter.
Die Briefe Mathildes an Eugen lesen sich eine zeitlang wie der zwischen
zwei jungen Leuten, die auf eine Verlobung zusteuern oder auch zugesteuert
werden. Der Autor fügt immer wieder Material aus den kommentierenden
Beobachtungen des Vaters ein. Aus der Verlobung, wenn sie denn intendiert
war, wird nichts. Pachmayr verlobt sich mit einer anderen; Mathilde hat
so etwas wie Liebeskummer. Freud tröstet sie mit den Worten: "Ich
ahnte längst, daß Du bei all Deiner sonstigen Vernünftigkeit
Dich kränkst, nicht schön genug zu sein und darum keinem Mann
zu gefallen. Ich habe lächelnd zugeschaut, weil Du mir erstens schön
genug schienst, und weil ich zweitens weiß, daß in Wirklichkeit
längst nicht mehr die Formenschönheit über das Schicksal
des Mädchens entscheidet, sondern der Eindruck ihrer Persönlichkeit...
Deine Erinnerung wird Dir bestätigen, daß Du Dir noch in jedem
Kreis von Menschen Respekt und Einfluß erobert hast." Was immer man
von der Psychoanalyse Freuds halten mag, diese und weitere Zitate zeugen
von einer tiefen Zuneigung und großem Einfühlungsvermögen
des Vaters.
Der Leser erfährt über ihre Pubertät hinaus weit mehr über
das Leben Mathildes, unter anderem über ihre ernstzunehmenden Krankheiten,
über ihre Ehe mit Robert Hollitscher, den von Freud geschätzten
Schwiegersohn, und über ihre Berufstätigkeit. Trotz vieler Bildungshemmnisse
und trotz der Vertreibung durch die Nazis 1938 baut sie sich in London,
wo sie noch 40 Jahre lebt, ein erfolgreiches Unternehmen in der Modebranche
auf. Mathilde kann sich aus den sozialen Beschränkungen, die einer
jungen Frau damals auferlegt waren, lösen. 25 Jahre leitete sie das
Modegeschäft "Robell". Auf alles geht Gödde detailliert
ein und verknüpft Mathildes Leben kenntnisreich immer wieder mit der
Entwicklung der Psychoanalyse.
Gerald Mackenthun
Berlin, September 2003
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Mathilde Freud