Greaves, Mel: Krebs - der
blinde Passagier der Evolution. Springer Verlag (Berlin-Heidelberg),
2002, gebundene Ausgabe, 284 Seiten, mit 21 Abbildungen, 34,95 Euro, ISBN
3540436693
Alle haben Angst vor Krebs. Krebs ist heimtückisch, schleichend und kaum
aufzuhalten. Jeder Vierte wird im Laufe seines Lebens mit der Diagnose Krebs
konfrontiert werden. "Krebs nimmt zu", meint der Laie, obwohl die
Zahlen des Robert-Koch-Instituts (Berlin) im Großen und Ganzen ein gleich
bleibendes Vorkommen pro Altersstufe belegen. Der Londoner Krebsforscher Mel
Greaves behauptet nun, Krebs sei unvermeidlich. Die wild wuchernden Zellen
sind Erbe unserer Evolution und werden voraussichtlich niemals gänzlich
beherrschbar sein.
Das Buch "Krebs - der blinde Passagier der Evolution" ist eine
umfassende Auseinandersetzung mit den Entstehungsmechanismen von Krebs, die
keinerlei Fragen des Lesers unbeantwortet lassen dürfte. Die Bekämpfung von
Krebs ist so schwierig, weil die Krebsentstehung im wesentlichen den
Mechanismen der Zellteilung folgt, die täglich in unseren Körper
milliardenfach stattfindet.
Krebs entsteht dann, wenn die vielfältigen Kontroll- und
Reparaturmechanismen der Zelle und anschließend die Polizeiarbeit des
Immunsystems versagen und eine überlebende Zellmutation mit dem Drang zum
ungehinderten Ausbreiten entsteht. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist extrem
gering, doch wegen der pausenlosen Zellregeneration in unserem Körper liegt
sie andererseits nicht bei Null. Jeder von uns hat "Krebs", wenn
darunter ein kleiner Zellhaufen verstanden wird, der aus Zellen besteht, die
sich dem gesunden und vielfältig kontrollierten Reproduktionszyklus entzogen
haben.
Damit demontiert Greaves, Direktor am Institute of Cancer Research London,
ganz nebenbei die psychosomatische Vorstellung von der "Krebspersönlichkeit"
- den vermeintlichen Zusammenhang von Charakter und erhöhter Krebsanfälligkeit.
Krebs beginnt mit mehreren Mutationen in einer Zelle, geht über zu
einem "Point of no return", an welchem die körpereigenen
Abwehrmechanismen versagen, erreicht ein Stadium der eigenständigen
Blutversorgung (Neovaskularisation), führt im Fortgang zu einer
Funktionseinschränkung (Leukämie z.B.) und wird in einem Zustand der
millionenfachen unkontrollierten Teilung tast- oder sichtbar. Erst im Stadium
der Funktionseinschränkung kommt der Patient zum Arzt und könnte allenfalls
als "Krebspersönlichkeit" diagnostiziert werden; da hatte er aber
schon einige Jahre "Krebs" in seinem Körper - vermutlich wie wir
alle. Zudem unterscheidet das Konzept der Krebspersönlichkeit nicht zwischen
den einzelnen, sehr unterschiedlichen Krebsarten und auch nicht zwischen
malignen und benignen Geschwulsten.
Außerhalb liegende Beeinflussungen wie Chemikalien oder Luftverschmutzung
spielen bei der Krebsentstehung zwar eine begleitende, selten jedoch eine auslösende
Rolle. Krebsforscher Greaves meint gleichwohl, durch Verhaltensänderungen könnten
90 Prozent aller Krebsfälle vermieden werden:
In erster Linie durchs Aufgeben des Rauchens, durch Kondombenutzung beim
Geschlechtsverkehr, durch eine abwechslungsreiche Ernährung und durch viel
Bewegung und durch vorbeugende Impfung gegen einige Viren und Bakterien, die
an der Krebsvorbereitung mit beteiligt sind. Die Maßnahmen dazu sind aus der
Sicht junger Leute allerdings ziemlich uncool.
Keine Veränderung der Lebensgewohnheiten kann Krebs gänzlich verhindern,
das Risiko jedoch lässt sich reduzieren. Doch tatsächlich ist der Homo
sapiens in dieser Hinsicht bemerkenswert schwer von Begriff. Das Rauchen, die
gravierendste Einzelursache für Lungenkrebs, wird nur schwer aufgegeben.
Deshalb: "Der Mensch hat schon immer Krebs bekommen und wird auch in
Zukunft mit Krebs leben müssen", so Greaves.
Anti-Krebs-Medikamente, auf die viele hoffen, werden noch auf sich warten
lassen, obwohl es eine Reihe von Ansätzen gibt. Ein Wirkstoff, der den
Zelltod (Apoptose) aktiviert, wird auch andere, gesunde Zellen töten, ein
Medikament, das die Blutzufuhr zum Krebsgeschwulst drosselt, wird auch andere
blutführende Bahnen absterben lassen, die der Mensch zum Leben braucht.
Greaves dämpft zu hohe Erwartungen.
Krebs ist nicht heilbar und wird es auch nie sein (die Menschheit aber möchte
es gern glauben); der Autor erklärt ausführlich, warum das so sein muss. Er
erläutert alle Krebsentstehungsmechanismen, die Gegenstrategien der Zelle und
des Körpers dagegen, die Tricks der medizinischen Krebsforschung sowie die
Aussichten der Krebsbekämpfung in diesem Jahrhundert. Es dürfte mit das
beste und klügste Buch sein, dass es derzeit zu diesem Thema gibt. Die sehr
gute Übersetzung stammt von Andrea Pillmann. Greaves Stil ist etwas trocken,
dafür sachlich und informativ. Und es ist vom Autor ausgezeichnet
recherchiert. Leider (beziehungsweise unvermeidlicher Weise) wird ausschließlich
englischsprachige Literatur herangezogen. Einige deutsche Übersetzungen, wie
beispielsweise Nesses und Williams' "Warum wir krank werden" (1997)
werden nicht aufgeführt. Aber das ist angesichts dieses hervorragenden Buches
nebensächlich.
Gerald Mackenthun
Berlin, Dezember 2002
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