Hauk, Freimut: Faszination Philosophie.
rororo Sachbuch
60347, Reinbek 1998. 349 S., 16.90 DM
Wenn Philosophie die Suche nach Gewissheit im Wissen ist, dann spielt
die Beschaffenheit der Welt einerseits und das erkennende Subjekt andererseits
eine Rolle. Einige philosophische Systeme neigen mehr zur Betonung der
einen, andere zur Betonung der anderen Seite und einige schließen
die Betrachtung oder gar die Existenz der anderen Seite aus. Zu den Methoden,
gesichertes Wissen zu erlangen, gehören Religion, Moral, Wissenschaft,
Erfahrung und Mythen. Alle diese Systeme, einschließlich der Wissenschaft,
erweisen sich bei genauerer Betrachtung mehr oder minder unvollkommen.
Daraus folgt die Notwendigkeit (und der unstillbare Wunsch) nach einer
steten Verbesserung, wenn nicht gar eine Ersetzung des einen Orientierungssystems
durch ein anderes. Hauk hält sogar den Mythos für rational, bis
er durch ein anderes, besseres System ersetzt werden konnte.
Die antike Philosophie ersetzte Schritt für Schritt den Mythos,
indem sie den Bereich der Rationalität ausweitete. Rationalität
bedeutet, sich einer gewissen Strenge im Denken zu unterwerfen. Philosophisches
Argumentieren setzt sich einer rationalen Kritik und Überprüfung
aus und kann dazu führen, dass Aussagen abgelehnt und ersetzt werden.
Rationale Schärfe kennt sogar die Intuition, die unmittelbare Einsicht
in evidente Aussagen. Beispiel dafür ist der mathematische Satz „der
kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist eine Gerade“, er leuchtet unmittelbar
ein. Intuition ist ein wenig verlässliches Instrument; für einige,
beispielsweise Descartes, ist die Existenz Gottes evident, aber Gott lässt
sich nicht beweisen, auch wenn es immer wieder versucht wurde.
Das liegt mit daran, dass sich die philosophischen Methoden, wie überhaupt
die Methoden des Denkens, ständig verfeinert haben. Philosophieren
kann heute nicht mehr heißen, wild drauflos zu spekulieren. Einige
mögen die analytische Disziplin als nicht menschengemäß
beiseite schieben, sie mögen die Kraft und die Verheißung, die
Welt- und Menschheitsprobleme im Handstreich und mit einer Formel zu lösen,
vermissen. In der Philosophie zeigte sich, dass diese imperiale Gebärde
nicht hält, was sie verspricht. Sie verdunkelt mehr, als sie klärt.
Solche raunenden Philosophen finden bis heute ihre Anhänger, beispielsweise
Hildegard von Bingen, eine raunende Mystikerin, von der heute einige behaupten,
an ihren Aussagen sei „etwas dran“. Die mythische Philosophie ist jünger
als die antike und entstand als Gegenbewegung zur säkularisierten.
Man wollte einen Glauben retten, den weder die Kirchen noch die Philosophie
mehr bieten konnte. Diese Philosophie wurde Weltanschauung, Ideologie oder
Heilslehre. Der Glaube ist ihnen wichtiger als die Erkenntnis.
Die Suche nach Antworten auf die Frage nach sicherem und gesichertem
Wissen beruht auf vier Säulen, die in der Philosophiegeschichte zeitlich
aufeinander folgten:
Die erste Säule ist die nach der wirklichen und wahren Beschaffenheit
der Welt. Das Objekt der Erkenntnis ist das materielle und immaterielle
Vorhandensein, das, was ist (Philosophie als Ontologie).
Die zweite Säule ist der Erkennende: Wie entsteht Erkenntnis
im Subjekt? Zum Objekt der Erkenntnis kommt das erkennende Subjekt hinzu.
Die Ontologie wird durch Epistemologie (Erkenntnistheorie) ergänzt
und erweitert. Indem die Sinneseindrücke untersucht wurden, wurde
klar, dass zwischen Objekt und Subjekt eine Beziehung besteht, die nicht
beliebig ist.
Die dritte Säule ist die Sprachkritik. Es stellte sich heraus,
dass viele philosophische Probleme aufgrund von sprachlichen und begrifflichen
Ungenauigkeiten entstanden und Scheinprobleme sind. Die Sprache der Subjekte
spielt für Erkenntnis und Wissen eine zentrale Rolle. Die Beziehung
zwischen Subjekt und Objekt (und zwischen Subjekten ohnehin) ist ganz wesentlich
sprachlich vermittelt.
Der vierte Schritt besteht mit Popper darin, die Suche nach absolutem
Wissen gänzlich zu verwerfen. Der Ansatz an sich ist schon falsch.
Es kann kein absolutes Wissen geben, sondern nur die schrittweise, mühsame
Weiterentwicklung und Vervollkommnung bestehender Aussagen.
* * *
Die vorsokratische Philosophie war Naturphilosophie, wenn man so möchte,
Naturwissenschaft. Sie versuchte, die Erfahrung des Wandels, des Wechsels,
der Konstanz, der Vielfalt, der Geburt und des Todes zu verstehen. Sie
suchte nach Gemeinsamkeiten und erfand die Methode der Reduktion, die
Rückführung auf elementare Gemeinsamkeiten, was noch heute ein
wesentliches Prinzip nicht nur der Philosophie, sondern der Wissenschaften
überhaupt ist. Sie erkannte, dass die Phänomene zu vielfältig
sind, als dass man an der Oberfläche stehen bleiben könnte, und
sie suchte die Wahrheit hinter dem Sinnlich-Wahrnehmbaren. Das wiederum
bedeutete, dass der Weg der Erkenntnis über die sinnliche Wahrnehmung
hinausgehen muss. In der rein sinnlichen Anschauung liegt noch nicht unbedingt
eine Wahrheit, es muss Vernunft hinzu kommen, also eine gedankliche und
sittliche Leistung.
Die Vorsokratiker übertrieben aber die Reduktion, indem sie alle
Erscheinungen auf ein Einziges zurückführen wollten, beispielsweise
auf einen Rohstoff oder auf vier Elemente. Von größtem Einfluss
war der Begriff der Substanz, von Parmenides eingeführt und von Aristoteles
fortgeführt. Substanz ist unzerstörbar und eine Einheit. Die
Suche nach unzerteilbarer und unzerstörbarer Einheit und Ganzheit
hat Philosophen und Psychologen bis ins 20. Jahrhundert nicht losgelassen.
Die Atomlehre von Xenon, Leukipp und Demokrit entsprang dem Wunsch, eine
nicht mehr teilbare Einheit, einen kleinsten gemeinsamen Nenner der realen
Welt zu finden und zu benennen. (Im Gegensatz zur modernen Atomtheorie
war ihre Theorie rein spekulativ.)
Für das griechische Denken war es eine Selbstverständlichkeit,
dass es hinter der Welt der Erscheinungen eine zweite Welt des Seins gibt,
die vielleicht sogar die wahrere ist. Andererseits ist die Erscheinungswelt,
die wir mit unseren Sinnen aufnehmen, einfach zu evident, als dass sie
als Schein abgetan werden könnte, wie Platon es in seinem berühmten
Höhlengleichnis tat. Die Realität der phänomenalen Welt
als der Welt unserer alltäglichen Erfahrung lässt sich nicht
ohne weiteres widerlegen. Sie ist offenkundig. Es gibt eine Evidenz des
Augenscheins, die wir noch heute in der Phänomenologie heranziehen.
Mit Sokrates wurde die Forderung in die Philosophie eingeführt,
das Denken müsse sich als begründet ausweisen. Mit der Rechtfertigung
für das Aufstellen von Hypothesen wurde dem spekulativen Philosophieren
ein Riegel vorgeschoben. Annahmen müssen kritischen Gegenfragen standhalten.
Die aufgestellten Sätze müssen rational überprüft und
die Begriffe vorher geklärt sein. Rational heißt, dass sich
niemand auf eine ungeprüfte Autorität berufen darf. Wenn Protagoras
sagt, der Mensch ist das Maß aller Dinge, so meint er damit, dass
der Mensch seine Welt nur aus seiner menschlichen Perspektive betrachten,
beschreiben und bewerten kann, und nicht aus der Sicht Gottes. Gegen diese
Forderung wurde bis in die Neuzeit verstoßen, von Heidegger beispielsweise.
Es gibt für uns keinen außermenschlichen Standpunkt und keinen
außermenschlichen Maßstab, sondern nur einen menschlichen –
das meint Protagoras. Damit erhielt die empirische Wahrnehmung noch einmal
einen hohen Stellenwert, doch wurde eingewandt, dass Erkenntnis auch (oder
wie einige meinen: nur) in der Reflexion entsteht und nicht (nicht nur)
aus der Wahrnehmung, aus dem Sinneseindruck heraus.
Das Wahrnehmungs- und Sinnesproblem ist für die Griechen so wichtig,
weil Platon behauptete, dass der unsterblichen Seele die „Ideen“ von Konkretem,
Abstraktem und Göttlichem eingeboren sind. Und schon Sokrates vor ihm
war überzeugt, dass Erkenntnis nur möglich ist von dem, was ohnehin
schon in der Seele vorhanden ist. Während für Platon die in die
Höhle verbannte Seele auf dem Weg zur Erkenntnis gezwungen werden
muss (und am Widerstand der stumpfen Welt scheitert), entspringt für
Aristoteles das Streben nach Wissen der natürlichen Veranlagung des
Menschen.
Der Rationalismus glaubt an die Vernunft und die Kraft vernünftigen
Argumentierens. Das Gegenteil davon ist der Irrationalismus, der nicht
etwa Unvernunft bedeutet, sondern seine Erkenntnisquelle nicht in den Sinneswahrnehmungen,
also in der Empirie, sucht, sondern beispielsweise im Gefühl. Bleibt
das Gefühl der Vernunft verschlossen? Es gibt unterschiedliche Meinungen
dazu.
Der Empirismus als Unterform des Rationalismus sucht jedenfalls die
Basis des Wissens nicht im Verstand und noch weniger im Gefühl, sondern
in der empirischen Erfahrung. Beide haben als Subjekt den erkennenden und
bewussten Menschen. Und jede Aussage muss verifizierbar sein. Nur wenn
eine Aussage verifizierbar ist, kann sie als sinnvoll angesehen werden.
Nicht nur die tatsächliche, schon die potenzielle Verifizierbarkeit
ist wichtig für die Aussage. Das Atom, das Unbewusste oder das Gen
sind Begriffe, die eingeführt wurden, als sie noch nicht verifiziert
werden konnten. Gleichwohl erwiesen sie sich als äußerst fruchtbar.
Der Empirismus übertreibt freilich, wenn er sagt, dass nichts in unserem
Geist ist, was nicht zuvor durch die Sinne gegangen ist. Der Verstand kombiniert
Sinneserfahrungen zu etwas neuem. Umgekehrt gilt, dass es ohne Sinneserfahrung
keine Erkenntnis und keinen Geist geben kann. Zum Wesen des Verstandes
gehört es, ständig zu arbeiten und nichts ungefiltert und uninterpretiert
durchzulassen.
Auch Rationalismus und Empirismus haben ihre Grenzen. Die objektive
Realität der Dinge bleibt dem Erkennen verschlossen. Erkenntnis ist
relativ zum Verstand, aber nicht völlig beliebig. Der Empirismus kennt
nicht nur die äußeren Sinnesorgane, sondern auch das Organ der
Selbstwahrnehmung. David Hume hat die Geistestätigkeit in die Philosophie
eingeführt. Gedächtnis ruft Vergangenes ins Bewusstsein und die
Einbildungskraft organisiert Sinneseindrücke in neuer Weise. Innere
Vorstellungen sind aus äußeren Eindrücken abgeleitet, die
Vorstellung Gottes beispielsweise auf die Erfahrung mit dem Vater. Aber
Humes Empirismus hat eine Lücke. Das Bewusstsein ist nämlich
in der Lage, Impressionen zu neuen Eindrücken zu ergänzen, die
das Subjekt vorher noch nie gemacht hat. Einbildungskraft und Phantasie
können noch viel mehr. Sie sind Kräfte, die Welten erschaffen.
Die Welten können reale oder imaginäre sein, sie können
gesund oder wahnhaft sein. Phantasie ist nicht begründbar, empirische
Sätze müssen es sein. Wenn ein Begriff wie Gemeinschaftsgefühl
auftaucht, und man hat keine rechte Vorstellung davon, so muss nur gefragt
werden, von welchem Eindruck dieser Begriff herstammt.
Die Einbildungskraft ist groß, aber nicht beliebig. Sie folgt
gewissen Gesetzen. Das wichtigste Gesetz ist das der Assoziation – eine
Vorstellung zieht eine ähnliche nach sich. Das zweite ist der Wunsch,
Wirkungen auf Ursachen zurückzuführen. Mit diesen Relationen
kann es aber kein sicheres, sondern nur ein wahrscheinliches Wissen geben.
Die Assoziation kann falsch und die Kausalität kann nicht vorhanden
sein. Manchmal können aber auch Fakten entdeckt werden, die die bewährteste
empirische Gesetzmäßigkeit hinfällig werden lassen. Empirisches
Wissen ist immer ein wahrscheinliches Wissen, jedoch ist es kein zufälliges
Wissen, es ist ein erprobtes und durch Erprobung gesichertes Wissen. Neben
der unsicheren Kausalität, die Korrelation genannt wird, gibt es die
sichere: Wasser unter Null Grad wird zu Eis. Korrelationen finden sich
eher in den Geistes-, Kausalitäten eher in den Naturwissenschaften.
Kausales Wissen ist insofern absolut, als wir auch in Zukunft sicher damit
rechnen können.
Denkinhalte werden unterschieden von den Wahrnehmungsinhalten. Einige
philosophische Schulen postulieren das Primat des theoretischen Denkens
(der Theoriebildung als Ausgangspunkt der Erkenntnis), andere das der unverfälschten
Wahrnehmung. Wer hat Recht? In diesem Fall ist das Gegeneinander müßig.
Die Elementarempfindung muss immer interpretiert werden. Das Phänomen
der Sinnestäuschung relativiert den Empirismus; Phänomene wie
Vorurteile oder Irresein relativieren den Rationalismus. Die Möglichkeit
des gelegentlichen Irrtums reicht jedoch nicht aus, um ein empirisches
oder rationales Wissen als Scheinwissen zu verwerfen, da es Mittel gibt,
den Irrtum zu korrigieren.
Metaphysisches Wissen hingegen ist echtes Scheinwissen. Metaphysik hebt
sich vom Boden der Erfahrung und des Augenscheins ab und verliert sich
im spekulativen Nebel. Im konkreten Fall ist die Grenze oft nicht scharf
zu ziehen. Empiristen und Positivisten haben mit scharfen Messern ihr eigenes
Vorgehen seziert, etwas was die Metaphysiker mit ihren eigenen Aussagen
niemals machten. Der logische Empirismus hat sich nicht selbst widerlegt,
wie Hauk meint, sondern hat sich an seine eigenen Grenzen erinnert und
ist damit bescheiden geblieben.
Mathematik, Physik, Geometrie und Algebra hatten zu Kants Zeiten den
Weg sicherer Erkenntnis beschritten und sich vom Vorherrschaftsanspruch
der Philosophie emanzipiert. Kant fragt, ob die Philosophie nicht auch
den Weg sicheren Wissens beschreiten könnte. Er bemüht dazu die
Vernunft und ihre Prinzipien. Kant ist ein Meilenstein beim Wechsel von
der Naturbetrachtung zum erkennenden Subjekt. Er schaut dem Denken kritisch
zu. Erkennen erfolgt über mehr oder minder bewusste Vernunft, deshalb
steht das Bewusstsein im Vordergrund dieser Philosophie. Die Hochschätzung
des Bewusstseins folgt aus dem selbst gestellten Arbeitsauftrag, die Möglichkeiten
des Erkennens auszuloten. Erkenntnis ist nur bei vollem Bewusstsein möglich,
alles andere ist Intuition, Phantasie oder Wahn. Kant geht es darum, die
Möglichkeiten und Grenzen bewusster Vernunft zu erkennen. Erst mit
Freud wurde die Zusatzkraft des Unbewussten voll gewürdigt.
Wie schon Hume und später Popper wollte Kant legitimes Wissen von
Scheinwissen unterscheiden. Deutlicher als andere ging Kant über die
Bedingungen des Erkennens und des Denkens hinaus, indem er eine Morallehre
aufstellt. Es lag nahe, sich bei der Beschäftigung mit der Vernunft
sich dieser Vernunft für ein „richtiges Leben“ zu bedienen. Aber so
wunderbar diese Vernunft auch ist, sie kann nur das einsehen, was sie selbst
nach ihrem Entwurf hervorgebracht oder sich angeeignet hat. Vernunft beruht
auf Erfahrung (Sinneseindrücken) und eher noch auf einer bestimmten
Art des Denkens.
Zu den Denkeigentümlichkeiten des Menschen gehört es, Erfahrung
immer schon zu Wahrnehmungsganzheiten zusammen zu fassen. (Das heißt
nicht, dass diese Ganzheiten existieren.) Unbearbeitete Daten des Erkennens
gibt es nicht, und sei es, Daten zunächst einmal unbearbeitet in der
Schwebe zu lassen. Erfahrung, der Ausgang aller Erkenntnis, ist bereits
etwas Geordnetes. Empirische Erkenntnis ist bereits ein Produkt von A-priori-Operationen
des Verstandes. Es gibt kein Primat der Erfahrung und kein Primat des Denkens.
Wo es um Erkenntnis geht, kann das Denken nicht schalten und walten, wie
es will, doch es gibt Ausnahmen. Die Mathematik ist ein reines Geistesprodukt
ohne Entsprechung in der Außenwelt.
Der Mensch bewegt sich auf genetischen, jedenfalls biologisch vorgegebenen
Bahnen seines Denkens, was viele Philosophen unbefriedigt ließ. Sie
wollten einen Standpunkt außerhalb einnehmen, um das unbeeinflusste
Erkennen und Denken objektiv zu beobachten und zu beschreiben. Heidegger
bspw. wollte von einem transzendentalen, außermenschlichen Standpunkt
aus das Sein erkennen, doch das ist ein unmöglicher Standpunkt.
Im Griechischen wie im Deutschen kann man jedes Wort durch den bestimmten
Artikel substantivieren, eine sprachliche Besonderheit, die die Entwicklung
der Philosophie sehr förderte. Das Zeitwort „sein“ kann zu einem Gegenstand
gemacht werden, dem „Sein“. Vielleicht war es nur dieser grammatikalische
Umstand, der Heideggers Gedanken beeinflusste – und ihn scheitern ließ,
denn dass es tatsächlich einen solchen Gegenstand wie „das Sein“ geben
müsse, ist damit noch nicht ausgemacht. Heidegger schloss von der
Sprache auf die Welt. Nachdem die sprachanalytische Kritik diese Art der
Argumentation zurückgewiesen hat, wird man sie nicht einfach weiterführen
können.
Ein Holzweg ist offenbar auch die für einige Jahrhunderte so wichtige
Suche nach Ursachen. Die Suche nach kausalen Ursachen war wichtig, um einen
letzten Beweis Gottes präsentieren zu können: Gott als erste
Ursache, als Anstoß, der selbst keines Anstoßes bedurfte. Bei
der Suche nach einer Letzt- oder Erstursache gerät man in einen unendlichen
Regress: Die Erstursache müsste ja auch eine Ursache haben. Die Erde
wird von einem Elefanten getragen. Der Elefant steht auf einer Schildkröte.
Aber worauf steht die Schildkröte? Den unendlichen Regress kann man
nur stoppen, wenn man ein Prinzip (Gott, die Schildkröte) dogmatisch
als das letzte Prinzip erklärt. Freud sah alles vom Lustprinzip determiniert,
aber was determiniert das Lustprinzip?
Erfahrung und Denken sind die beiden Quellen der Erkenntnis, und es
ist unmöglich zu sagen, was zuerst kommt. Beides wirkt in einem endlosen
Zirkelkreis auf den jeweils anderen Teil zurück. Im Erfahren und im
Denken können wir uns täuschen, weshalb die Philosophie es heute
als ihre Hauptaufgabe ansieht, legitimes Wissen von Scheinwissen zu unterscheiden.
Philosophie und Logik liefert diese Unterscheidung, aber die Einzelwissenschaften
müssen zusätzlich angeben, wo jeweils bei ihnen die Grenze verläuft,
was noch tolerabel ist und was nicht. Die Rätsel des Lebens, das Problem
des Todes, die Frage nach dem Sinn des Lebens, Fragen der Religion und
der Ethik, kurz, die ewigen Fragen und Grundprobleme der Menschheit werden
durch die theoretische Beantwortung philosophischer Erkenntnisfragen nicht
einmal berührt, geschweige denn gelöst. Wie wir gesehen haben,
ist die Abgrenzung von theoretischen Problemen und praktischen Lebensproblemen
gleichwohl nicht eindeutig. Die antiken Griechen ebenso wie Kant kannten
und stellten die Fragen nach dem „richtigen Leben“ und fanden die Antwort
in göttlichen Gesetzen oder der menschlichen Vernunft. Denn über
die Stationen der Erkenntnis hinaus, die Hauk von der Antike bis zur Gegenwart
darstellt, ist ein weiterer Zweig der Philosophie die Suche nach den Ausformungen
von Tugenden. Doch selbst wenn alle sinnvollen Fragen beantwortet wären,
was hätte man damit für die Meisterung des Lebens gewonnen? Wenn
Tugend sich lehren lässt, dann wohl eher durch das Beispiel als durch
Bücher.
* * *
Die Frage nach einem gesicherten Fundament des Wissens hat in der Neuzeit
eine Lösung gefunden: Sie ist erkenntnistheoretisch obsolet geworden.
Die Suche danach kann aufgegeben werden, weil nach etwas gesucht wurde,
was es offensichtlich nicht geben kann. Wittgenstein war so einer, der
allergisch gegen apriorische Annahmen war; sie sind ein philosophischer
Traum, der von der Wirklichkeit des menschlichen Lebens abhebt.
Die Kritik der philosophischen Sprache ist Inhalt des dritten großen
Paradigmawechsels innerhalb der Philosophie. Viele philosophische Probleme
entstehen aus falschem Sprachgebrauch. Diese Erkenntnis ist erstaunlicher
Weise ganz jungen Datums, vielleicht gerade mal 100 Jahre alt. In der Psychologie,
die sich mit Gefühlen beschäftigt, kann der falsche Sprachgebrauch
zu falschen Schlüssen führen, wenn beispielsweise die Existenz
von Gefühl verdinglich wird. Dann muss das verdinglichte Gefühl
auch einen Ort bekommen, das Herz zum Beispiel. Aber Gefühle, sagt
Hauk, besitzt man nicht, so wie man ein Auto besitzt. Man kann einen Besucher
in die Garage führen und das Auto zeigen, aber nicht in die Seele
führen und Gefühle zeigen. Die Sprache weise in eine Tiefe, die
keine ist.
Hat er damit zumindest teilweise recht? Es ist eine Aporie, über
das Unbewusste sprechen zu wollen. Wie kann man über etwas sprechen,
was einem unbewusst ist? Aus diesem Widerspruch ist Freud nie herausgekommen.
Das Unbewusste, die Seele, das Gefühl als Tatsache zu behandeln oder
nach dem „Wesen“ von Tatsachen zu suchen, erklärt eine transzendentale
Welt zur Grundlage der Welt der Tatsachen, sagt Hauk. Das könne nur
in die Irre führen, man verliere den Kontakt zur Realität. „Das
ist der Fehler des Essentialismus“, der Wesensschau.
Vergegenständlichung
mag für den puren Philosophen unannehmbar sein, in der Alltagssprache
sind solche Kunstgriffe unersetzlich. Vaihinger betonte, der Mensch komme
mit „Als ob“-Annahmen besser durch die Welt. Er tut so, als ob etwas existent
wäre, was er sich aber nur in seinem Kopf ausgedacht hat. Meridiane
sind eine solche Als-ob-Konstruktion, ebenso die Gravitation, und gewiss
auch das Unbewusste, die Seele und das Herz als Sitz des Gefühls.
Begriffliche Eindeutigkeit ist ein legitimes wissenschaftliches Ziel,
doch im Alltag darf zunächst einmal darauf verzichtet werden, jeden
verwendeten Begriff zu erläutern. Man orientiert sich an den allgemein
gültigen Wortbedeutungen und bessert erst nach, wenn sich Verständigungsprobleme
einstellen. In der Wissenschaft sind klare Definitionen viel wichtiger:
Wovon sprechen wir eigentlich? Letzte Genauigkeit darf auch hier nicht
erwartet werden. Immer sprechen Menschen in einem bestimmten Zusammenhang
und aus individueller Erfahrung heraus, kurz, Sprache ist situationsgebunden.
Die sprachliche Mitteilung einer Empfindung wird immer unpräzise bleiben.
Die Angewohnheit, ein Ding mit einem Wort zu benennen und dann zu glauben,
alle verstehen, was gemeint ist, kann in die Irre führen.
Wittgenstein meinte, jede Wissenschaft, jede Profession und jede Gruppe
spiele ihr „Sprachspiel“. Die Gültigkeit des jeweiligen Sprachspiels
hängt von ihrer Anerkennung ab. Mathematik oder Geometrie sind weltweit
beglaubigt, weil ihre Konventionen allgemein anerkannt werden. Empirische
Kriterien sind dabei nicht einmal ausschlaggebend, ja sogar machtlos. Religion
beispielsweise spiele ein anderes Sprachspiel, jeder könne sich hinter
dem Sprachspiel verschanzen, das er spielt. Aber so einfach ist es nicht,
die Sprachspiele sind nicht beliebig relativ. Empirie hat eine gewisse
Macht und bewirkte, dass Religionen viel von ihrem Absolutheitsanspruch
aufgeben mussten.
Karl Popper wandte sich im scharfen Gegensatz zu Wittgenstein gegen
die Sprachanalyse, er hielt Definitionshuberei und Sprachanalyse für
unerheblich und reine Zeitverschwendung. Philosophie habe es mit Problemen
zu tun, und das erste Problem, dem Popper sich zuwandte, war die Frage:
Wie kann Wissen von Scheinwissen unterschieden werden? Mit Popper machte
die Philosophie noch einmal eine Kehrtwende, weg von der Sprachanalyse
hin zu den Voraussetzungen, unter denen Wissenschaft betrieben werden sollte,
um diesen Namen zu verdienen.
Auch Popper geht von der Empirie aus, egal ob es sich um Aussagen über
Sinnes- und Gefühlseindrücke, Gesamterlebnisse, Ähnlichkeitsbeziehungen
oder reine Dingbeschreibungen handelt. Wie wir Gegenstände und Gefühle
wahrnehmen, ist ein psychologisches Problem, und die verschiedenen psychologischen
Theorien sind Lösungsversuche dieses Problems. Die Wahrnehmung ist
immer schon durchtränkt von theoretischen Erwartungen oder Fragestellungen,
eine reine Anschauung gibt es nicht (vielleicht haben sie nur die ganz
kleinen Kinder). Ferner ist zu beachten, dass die Sinnesdaten (dazu gehören
auch Träume und Empfindungen) nicht identisch sind mit dem sprachlichen
Ausdruck der Sinnesdaten. In dieser Kluft liegt ein Problem, das in Wissenschaft
und Politik zu erheblichen Schwierigkeiten und Missverständnissen
geführt hat.
Basissätze über Vorfindliches liefern also nicht die gewünschte
Gewissheit. Noch weniger gewiss ist der Schluss vom Einzelnen auf das Allgemeine
(Induktion). Freuds Aussage, alle Träume sind Wunscherfüllungen,
lässt sich logisch nicht rechtfertigen. Popper löst das Problem,
indem er die Allgültigkeit induktiv gewonnener Gesetze (Naturwissenschaften)
und Aussagen (Geisteswissenschaften) relativiert. Sie sind nicht zwingend
gültig, sondern mehr oder weniger bewährte Hypothesen. Induktive
Sätze liefern keine strenge Gültigkeit, doch einen gewissen Grad
von Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit.
Popper sah ein Problem mit der Wahrscheinlichkeit. Je nichtssagender
oder tautologischer ein Gesetz oder eine Aussage, desto wahrscheinlicher
sind sie: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter,
oder es bleibt, wie es ist. Übertreibt Popper, wenn er mit diesem
Argument die Wahrscheinlichkeitslogik ablehnt? Naturwissenschaften verwerfen
bestimmte Hypothesen, indem sie den Grad der Wahrscheinlichkeit und den
Grad der Unwahrscheinlichkeit bestimmen. Medizin (und selbst die Psychologie)
bedient sich der Wahrscheinlichkeit, beispielsweise um den Verlauf einer
Krankheit zu prognostizieren. Der ganz auf empirische Daten beruhende Wetterbericht
sagt Regen mit einer prozentualen Wahrscheinlichkeit an; jeder muss dann
selbst entscheiden, ob er den Regenschirm mitnimmt oder nicht.
Die hohe Wahrscheinlichkeit nichtssagender Sätze spricht nicht
grundsätzlich gegen die Wahrscheinlichkeitsaussage. Wir wollen ja
keine Bauernregeln und Allerweltsaussagen, sondern präzise Sätze;
wir wollen was lernen. Das deduktive Verfahren, das Popper an die Stelle
des für ihn nicht zufriedenstellend gelösten Induktionsproblems
setzt, arbeitet auch mit Wahrscheinlichkeit. In der Wissenschaft, sagt
Popper, geht man von einer Theorie aus, mit deren Hilfe man deduktiv das
Eintreten bestimmter einzelner Ereignisse prognostiziert – als Wahrscheinlichkeit
oder als Gesetz.
Der Induktionslogiker sammelt unzusammenhängende Elementarerlebnisse
und formuliert daraus eine Theorie. Der Deduktionslogiker hat eine bestimmte
Theorie im Kopf, für die er Bestätigung sucht. Theorien lenken
unsere Wahrnehmung. Auch Vorurteile sind in diesem Sinne Theorien. Jede
Theorie kann sich als fruchtbar erweisen; ob sie das ist, ergibt sich –
das ist das Neue bei Popper - aus der Möglichkeit der Falsifizierbarkeit
(und nicht aus der Bestätigung).
Nach wahrem Wissen, nach nicht widerlegbaren Theorien wird nicht mehr
verlangt, im Gegenteil, erst die Widerlegbarkeit und ihre methodische Nachprüfbarkeit
macht eine Theorie wertvoll, sagt Popper. Eine Theorie braucht nicht wahr
zu sein, sondern nur bewährt, beispielsweise Adlers Theorie des Minderwertigkeitsgefühls.
Wissenschaftliche Sätze sind nur insofern objektiv, als sie intersubjektiv
nachprüfbar sind – mit all den oben beschriebenen Unsicherheiten im
Erkennen oder in der Sprachvermittlung.
Wenn wahres Wissen nicht möglich ist und nicht mehr verlangt wird,
braucht die Nachprüfbarkeit nicht ad infinitum fortgesetzt werden.
An irgendeiner Stelle dürfen wir sie für vorläufig befriedigend
erklären. Das eröffnet Raum für weiteren Fortschritt. Hegemoniale
Theorien können einen gewissen Dogmatismus annehmen, aber es darf
kein autoritärer Dogmatismus sein, der sich auf letzte Gewissheiten
oder eine gesellschaftliche Machtposition gründet. Wie schrecklich
für uns Nachkommen wäre es gewesen, wenn die alten griechischen
Philosophen auf ewig Recht behalten hätten. Theorien bewähren
sich im Wettbewerb. Die Kritik ist ein wesentliches Element für den
Fortschritt in der Philosophie. Eine neue Schule entsteht meist in Abgrenzung
zu Altem, entweder durch das völlige oder partielle Verwerfen der
Vorgängermeinung. Die Theorie, die am stärksten überprüft
worden ist, wird bevorzugt. Verhaltenstherapie wurde öfter überprüft
als Tiefenpsychologie und Psychoanalyse und genießt dadurch einen
gewissen Vorrang in der Anwendung.
Theorien setzen sich indes nicht so rational durch, wie von Popper angegeben.
Neue Theorien werden nicht unbedingt übernommen, weil sie besser sind,
sondern weil sie – wie in den tiefenpsychologischen Schulen – begeisterte
Anhänger finden, die an sie glauben, sie propagieren und durchsetzen.
Oder es entstehen neue Theorien parallel zu den alten, es findet eine Ergänzung
und kein Ersatz statt. Alte Theorien sterben manchmal, nicht weil sie falsifiziert
werden, sondern weil ihre Vertreter aussterben. Viele irrationale Faktoren
wie Intuition, Begeisterung und Hoffnungen spielen eine oft entscheidende
Rolle.
Poppers Bedeutung liegt darin, dass er eine Logik der Forschung formuliert,
verlässliche Wegmarkierungen, an denen entlang sich Wissenschaft bewegen
muss. Diese „Vermessungspunkte“ (Hauk) sind (S.315ff):
- Anerkennung der Tradition: Jede neue Erkenntnis hat einen gegebenen
Ausgangspunkt in einer historischen Situation. Das ist die Startbasis.
Die Grundlage kann auch ein Mythos sein oder eine andere Tradition, die
uns Fragen und Probleme vorgibt.
- Toleranz, Pluralismus und der Wettbewerb der Gedanken: Das ist nicht
die Position des anarchistischen Relativismus, doch soll zunächst
gedanklich nichts verboten sein. Geist ist Fülle an Problemen, Fragestellungen
und Lösungsvorschlägen. Jede andere Auseinandersetzung als die
geistige ist verboten.
- Alle Theorien müssen falsifizierbar sein. Je klarer die Formulierung,
desto größer die Chance der Widerlegung. Marxismus und Psychoanalyse
lieferten ohne Unterlass Neuformulierungen ihrer Theorien und entzogen
sich der Falsifizierung. Die Theorien von Freud, Adler, Jung und Marx sind
nach Popper nicht widerlegbar. Jedes Vorkommnis wird als eine Bestätigung
ihrer Theorie erklärt.
- Die Forderung nach Redlichkeit: Alle Umstände, auch die Fehler,
einer Theorie müssen auf den Tisch. Alle relevanten Informationen
zur Bewertung einer Theorie müssen herangezogen werden.
- Rationale öffentliche Diskussion ist das Instrument, um sich
über eine Theorie klar zu werden. Es ist vor der Öffentlichkeit,
vor der sich Theorien bewähren. Sogar Spekulationen und Metaphysik
müssen eine Chance erhalten.
- Wegen des Wahrnehmungs- und des Sprachproblems kann es kein absolutes
Wissen geben. Wissenschaftler sollten bescheiden bleiben. Man muss nicht
gleich übertreiben wie Sokrates, der mit dem Satz „Ich weiß,
dass ich nichts weiß“ etwas dick auftrug. Der Umfang des Nichtwissens
ist hartnäckig viel größer als der des Wissens, aber wir
sollten nicht so tun, als ob wir völlig am Anfang stünden. Unser
Wissen ist begrenzt, aber nicht null. Das Bemühen um Wissen führt
zur Einsicht in den Umfang des eigenen Nichtwissens. Aus jedem gelösten
wissenschaftlichen Problem erwachsen zwei neue.
Poppers Methodologie hat einen Doppelcharakter. Zum einen beschreibt
er die logischen Strukturen des wissenschaftlichen Fortschreitens, zum
anderen formuliert er ethische Prinzipien. Die Idee der Annäherung
an die Wahrheit, die Wahrheitssuche, die Redlichkeit sind ethische Prinzipien.
Ähnlich wie bei Kant und Platon reichen sie noch weiter. Platon erarbeitete
eine Ethik für das Staatswesen, Kant für den Einzelnen und Popper
wieder für den Staat. Doch während Platons Staatsidee auf die
Autokratie einer abgeschotteten Philosophenkaste hinausläuft, hat
Popper unter dem Eindruck des Faschismus die Demokratie im Auge. Nicht
die platonische Frage, wer soll regieren, ist für Popper entscheidend,
sondern die Frage, wie kann man Fehler und Irrtümer revidieren, wie
kann man unfähige Herrscher unblutig loswerden. Die Demokratie hat
die dafür brauchbaren Instrumente.
Hauk schreibt über Popper, er liefere eine „Erkenntnistheorie ohne
erkennendes Subjekt“. Das ist nicht ganz korrekt, denn zwischen der physischen
Welt (bei Popper „Welt 1“ genannt) und der Welt der Produkte des menschlichen
Geistes („Welt 3“) siedelt Popper die psychische Welt der bewussten und
unbewussten Erlebnisse und Wahrnehmungen an („Welt 2“). Welt 2 hat er nicht
ausformuliert, aber warum sollte man ihm das zum Vorwurf machen? Wie Nauk
ganz richtig schreibt, kümmert sich die Philosophie um die Bedingungen
der Wahrnehmung und der Erkenntnis; die empirischen Daten dazu liefern
die Einzelwissenschaften, unter ihnen die Psychologie.
Poppers Theorie des Erkenntnisfortschritts ist evolutionär. Fängt
dieser Fortschritt mit Einzelbeobachtungen oder mit einer Theorie im Kopf
an? Wahrscheinlich beides, mal das eine, mal das andere. Verfolgt man diesen
Prozess rückwärts, wird man irgendwann zu angeborenen Erwartungen,
Basisaffekten oder Grundbedürfnissen des Säuglings kommen. Sie
sind geeignet, an zukünftige Ereignisse anzupassen und sie zu meistern.
Ebenso die Theorien. Sie ordnen das Wissen, das wir von der Welt haben.
Der Wille nach Überschaubarkeit scheint ein menschliches Grundbedürfnis
zu sein. Die Komplexität der modernen Wissenschaft wird damit zu einem
neuen Problem, auf das einige mit der Suche nach einfachen Antworten reagieren,
die sich meist als allzu einfach entpuppen. Wissenschaftsskepsis weitet
sich manchmal zu einer Ablehnung von Wissenschaft aus. Die Romantik frönte
dem Irrationalismus und setzte der empirischen Erkenntnis die Kraft des
Gefühls, des Unterbewussten, des Ganzheitlichen entgegen.
* * *
Seit den alten Griechen wurde der Philosophie eine Leitfunktion zugesprochen
bzw. sie sprach sie sich selbst zu. Sie glaubte angeben zu können,
was das Gute, das Wahre, überhaupt „das richtige Leben“ sei. Ein Streifzug
durch die Philosophiegeschichte wie die von Freimut Hauk zeigt, dass die
Philosophie über wichtige und gute Einsichten verfügt, aber im
Vergleich zu den anderen Wissenschaften nicht über höhere Erleuchtung.
Sich allein der Philosophie anzuvertrauen, ist ein Gang auf schwankenden
Brettern. Jene Pioniere, die aufbrachen, um die wahre Erkenntnis und den
letzten Grund zu finden, kamen nicht ans Ziel. Die Bedingungen und Strukturen
des menschlichen Denkens erwiesen sich als nicht überwindliches Hindernis,
hinter sie oder über sie hinaus kann keiner gelangen.
Die „wahre Erkenntnis“ war ein Mythos. Unser Ausblick auf die Welt bleibt
immer der menschliche, einen absoluten Standpunkt, den Standpunkt Gottes
sozusagen, können wir nicht einnehmen. Denken und Verstehen geschehen
aus einem Vorverständnis heraus, das geschichtlich und sprachlich
bedingt ist. Keine Wahrnehmung und keine Erkenntnis kann für sich
beanspruchen, die einzig richtige zu sein. Das bedeutet nicht, dass Wahrnehmung
und Erkenntnis beliebig sind. Mit Popper haben wir die Wegmarkierungen
für eine evolutionär voranschreitende Wissenschaft. Anwendbare,
angemessene, nützliche und gerechtfertigte wissenschaftliche Theorien
aufzugeben würde bedeuten, in unsicherere Zeiten zurückzufallen.
Eine rationale Theorie kann uns zu einer angemessenen Praxis anleiten.
Doch was ist Rationalität? Sowohl Irrationalität als auch eine
totale Rationalität haben beträchtliches Unheil angerichtet.
Wir kommen deshalb immer wieder darauf zurück, eine Mittelstellung
einzunehmen, die von Bescheidenheit und Redlichkeit geprägt ist, ohne
auf Analyse und Kritik zu verzichten.
Wird Psychologie als Wissenschaft verstanden, so hat das Folgen. Man
kann nicht die Wissenschaftlichkeit psychologischen Denkens behaupten und
gleichzeitig die Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Denkens, wie sie
sich bis heute entwickelt haben, ignorieren. Psychologisches Argumentieren
setzt sich einer rationalen Kritik und Überprüfung aus und kann
dazu führen, dass Aussagen abgelehnt werden.
Es wurde gesagt, im Erfahren und im Denken können wir uns täuschen.
Die Psychologie kann angeben, welche Fallstricke auf dem Weg der Erkenntnis
lauern, warum selektiert wahrgenommen wird und wie die Filter aufgebaut
und eingesetzt werden, der Erfahrung und Denken Richtung und Umfang vorgeben.
Die Psychologie selbst kann dabei in die Lage kommen, die Grenze vom legitimen
Wissen zum Scheinwissen zu überschreiten. Sie braucht also die Kontrolle
durch Philosophie, Logik, Statistik und den anderen Hilfswissenschaften.
Die Philosophie kann angeben, ob die Psychologie ihr Wissen zu Recht erworben
hat, oder ob es sich um Scheinwissen handelt. Psychologie und Philosophie
müssen sich an diesem Punkt entgegenkommen und kooperieren. Die Pflöcke
am Wegrand der Erkenntnis stammen von der Philosophie, die Erkenntnis über
den Menschen von der Psychologie. Die theoretische Erkenntnis über
Bedingungen der Erkenntnis lösen nicht die ewigen Menschheitsfragen
nach Geburt und Tod, dem Sinn des Lebens und die ethischen Fragen. Wir
konnten aber auch feststellen, dass Philosophie mehr ist als die theoretische
Suche nach Erkenntnis, sie mündet in eine Tugendlehre. Philosophen
wie Spinoza oder Montaigne haben immer auch gesagt, was gut und was falsch
ist, was sie für gut oder für falsch halten. Ebenso wenig wie
die begrenzten Bedingungen seines Erkenntnisapparats kann der Mensch seine
Moral abschütteln. An diesem Punkt berühren sich Philosophie
und Psychologie stark. Beide können voneinander lernen und sich ergänzen.
Hat die Tiefenpsychologie ihre philosophische, erkenntnistheoretische
Lektion gelernt? Nur zum Teil. Popper bringt ein Beispiel: Ein Mann stößt
ein Kind ins Wasser, um es zu ertränken, ein anderer springt hinterher,
um es zu retten. Die Psychoanalyse wird beide Männer nach ihrem Ödipuskomplex
befragen und "Gründe" für das jeweilige Verhalten finden, einmal
im Sinne eines unbewältigten Ödipuskomplexes, im zweiten Fall
im Sinne eines sublimierten Ödipuskomplexes. Die Individualpsychologie
findet einen Minderwertigkeitskomplex im Mörder des Kindes, denn sonst
hätte er nicht nötig, ein Verbrechen zu begehen, aber auch der
Retter hat ein Minderwertigkeitsgefühl; er muss sich beweisen, dass
er es wagt, das Kind zu retten.
Man kann sich kein menschliches Verhalten ausdenken, das man nicht durch
beide Theorien, Psychoanalyse und Individualpsychologie, interpretieren
kann. Diese Tatsache halten ihre Bewunderer für eine Stärke.
Diese scheinbare Stärke ist in Wirklichkeit eine Schwäche. Bei
beiden psychologischen Theorien ist es praktisch unmöglich, ein menschliches
Verhalten zu beschreiben, das nicht als Verifikation in Anspruch genommen
werden kann. Sie lassen sich nicht widerlegen, gelten unter allen Umständen
und werden dadurch uninteressant. Für Popper bedeutete dies: Eine
Theorie, die durch kein denkbares Ereignis widerlegt werden kann, ist unwissenschaftlich.
Eine Auseinandersetzung von Psychoanalyse und Individualpsychologie mit
Popper ist nicht bekannt, was verschiedene Ursachen haben kann. Eine könnte
darin liegen, dass sich gegen Poppers Verdikt der Unwissenschaftlichkeit,
zumindest was die Frühzeit von Psychoanalyse und Individualpsychologie
angeht, kaum etwas sagen lässt.Angewandt auf die beiden psychologischen Theorien besagt Poppers Lehre
unter anderem, dass Bestätigungen für diese Theorien nur dann
ernst genommen werden sollten, wenn sie das Resultat "riskanter Vorhersagen"
sind. Es müssten Ereignisse (in der Psychologie: Verhaltensweisen,
Charaktereigenschaften oder soziale Dynamiken) vorausgesagt werden, von
denen einige eintreten und andere ausgeschlossen werden müssen. Anders
gesagt, eine gute wissenschaftliche Theorie schließt auch aus, was
bedeuten würde, Psychoanalyse und Individualpsychologie müssten
zu ihrer Verifizierung Ereignisse benennen, die nicht eintreten dürfen.
Popper geht noch weiter und fordert, jede Theorie müsse von sich
aus Experimente und Überlegungen angeben, die sie widerlegt. Findet
dann Widerlegung statt, heißt das noch nicht, dass sie falsch ist,
doch muss die Theorie überarbeitet oder bei weiterer Widerlegung beiseite
gelegt werden. Wird die Theorie nicht widerlegt, heißt das nach Popper
noch nicht, dass sie wahr ist, doch wird sie in ihrem Gehalt härter,
wenn sie sich bewährt.
Einsteins Gravitationtheorie erfüllte zweifellos das Kriterium
der Falsifizierbarkeit (obwohl die damaligen Messungen nicht völlig
befriedigend waren). Die Astrologie beispielsweise bestand diese Probe
nicht; sie nimmt widersprechende Tatsachen gar nicht zur Kenntnis. Eine
Maßnahme, um Falsifikation zu vermeiden, ist Vagheit. Indem eine
Theorie hinreichend vage ausgedrückt wird, kann alles wegerklärt
werden, was nicht mit der Theorie übereinstimmt. Eine Theorie wird
um so falsifizierbarer, je präziser sie sich ausdrückt. Es ist
typisch für die Astrologie und die Wahrsager einschließlich
der Nostradamus-Interpreten, ihre Voraussagen so vage zu halten, dass sie
kaum fehlgehen können.
Mit klinischen Beobachtungen glaubten die Analytiker naiverweise, ihre
Theorien bestätigen zu können, doch so interessant Einzelfallgeschichten
sein mögen, sie sind ungeeignet, eine Theorie zu bestätigen.
Wenn gesagt wird, die beiden psychologischen Theorien (in ihrer ausgefeilten
Form von 1919/1920) seien unwiderlegbar, so heißt das nicht, dass
Freud und Adler gewisse Dinge nicht richtig gesehen haben. Vieles von dem,
was sie sagen, ist von beträchtlicher Bedeutung, und die selbstkritischen
Weiterentwicklungen dieser Theorien spielen in der prüfbaren Psychologie
eine wichtige Rolle.
Freud wunderte sich über die "Gefälligkeitsträume" seiner
Patienten, die viel zu glatt in das psychoanalytische Trauminterpretationsschema
passten, als dass sie spontan zustande gekommen sein konnten. Problematisiert
hat er das seltsame Entgegenkommen seiner Patienten nicht. Im Gegenteil,
er war vielmehr der Ansicht, es sei nichts dagegen einzuwenden, wenn diese
Träume aufgrund der Suggestion von Seiten des Analytikers zustande
kommen. Und er setzte noch eins drauf, indem er behauptete, die Suggestion
würde die Zuverlässigkeit der psychoanalytischen Resultate nicht
beeinträchtigen. Freud war offensichtlich blind gegenüber seiner
eigenen Wirkung. Für Popper und für viele andere Psychoanalyse-Kritiker
hat die Psychoanalyse damit nicht mehr Erklärungs- und Wahrheitswert
wie Mythen oder die Astrologie.
Eine Theorie, die als nicht-wissenschaftlich oder metaphysisch angesehen
werden muss, muss damit nicht zugleich als unwichtig, unbedeutend oder
sinnlos gelten. Astrologie und Alchemie waren in früheren Zeiten die
Speerspitze der Wissenschaft und haben nebenbei eine Reihe von brauchbaren
Erkenntnissen hervorgebracht. Doch heute sind sie vielfältig widerlegt
und egal, wie man zu ihnen steht, so dürfen sie nicht mehr das Etikett
wissenschaftlich tragen. Gleiches gilt für Psychoanalyse und Individualpsychologie,
die zumindest vor 80 Jahren, das heißt in der Hochzeit ihrer Entwicklung,
nicht den Anspruch erheben konnten, im popperschen Wissenschaftssinn durch
Empirie gestützt zu sein, obwohl es durchaus möglich ist, dass
sie ihrer Entstehung nach mit Beobachtungen zusammenhängen.
Freuds und Adlers Denken folgte einer Richtung, die Popper dogmatisches
Denken nennt. Sie erwarteten überall Regelmäßigkeiten,
und sie versuchen sie sogar dort zu finden, wo es keine gibt. Ein gewisses
beharrendes Festhalten an Theorien kann sinnvoll sein, um genügend
Material dafür zusammenzutragen. Ein zu starres Verhalten aber will
der Welt seine Theorie aufzwingen. Das dogmatische Denken entspricht dem,
was Adler als Starrheit an neurotischen Menschen imponierte. Diesen Gedanken
noch einen Schritt weitergesponnen führt zur Aussage, dass Freud und
Adler in nicht unerheblichem Umfange dogmatisch dachten und neurotisch
an ihren Vorerwartungen festhielten. Der Mensch kommt entwicklungsgeschichtlich
gesehen aus dem dogmatischen Denken und hat die Aufgabe, sich zum kritischen
Denken aufzuschwingen. Folglich muss Wissenschaft mit der Kritik an Mythen
und magischen Techniken beginnen.
Wir sind an Theorien mit einem hohen rationalen Bewährungsgrad
interessiert, weil wir an der Wahrheit interessiert sind – eine Wahrheit
mit den oben skizzierten Einschränkungen. Gerade die risikofreudige
Überprüfung ist es, die wissenschaftliche Erkenntnis von metaphysischen
Spekulationen abgrenzt.
Den Philosophen geht es nicht zuletzt um die Verbreitung einer wissenschaftlichen
Weltauffassung. In einer aufklärerischen Haltung wandten sie sich
in scharfer Polemik gegen die Irrationalismen ihrer jeweiligen Zeit. Es
wurden in dieser Hinsicht Fortschritte erzielt, hinter die man nicht mehr
zurückfallen darf. Metaphysik ist heute nicht mehr möglich, man
würde sich dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit aussetzen (was Metaphysiker
nicht juckt). Psychoanalyse und Individualpsychologie haben der Menschheit
viel gegeben, wenngleich einige ihrer frühen Aussagen heute mit einem
Fragezeichen versehen werden müssen. Ob die Tiefenpsychologie seit
ihren Gründervätern wissenschaftlich vorangeschritten ist, muss
eine weitere Untersuchung ergeben, die hier nicht vorgenommen werden kann.
* * *
Gerald Mackenthun
Berlin, August 2001
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