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Jacobi, Corinna / Paul, Thomas / Thiel, Andreas: Essstörungen. Fortschritte der Psychotherapie Band 24, Hogrefe Verlag, Göttingen 2004, EUR 19,95


Ob Inzidenz (die jährliche Zahl der Neuerkrankungen) oder Prävalenz (Anteil von Personen in einer bestimmten Bevölkerung, die eine bestimmte Krankheit zu einem bestimmten Zeitpunkt aufweisen) von Essstörungen in den westlichen Staaten zunehmen, ist nicht völlig bewiesen, doch deuten einige Studien darauf hin. Wie auch immer, Patientinnen mit dieser Störung stellen einen erheblichen Anteil in den Praxen niedergelassener Therapeuten und in den entsprechenden Klinik-Fachabteilungen. Neben Übergewicht spielen bei Essstörungen die Störungsbilder Anorexie und Bulimie die größte Rolle. Das Buch „Essstörungen“ der Psychologen und Ärzte Jacobi, Paul und Thiel – Band 24 der Hogrefe-Reihe Fortschritte der Psychotherapie – verspricht auf nur 113 Seiten einen knappen und handlichen Überblick über Definition, Ursachen und Behandlung von Anorexie (ICD-10 F50.0) und Bulimie (ICD-10 F50.2).

Das Buch beginnt recht trocken mit den Definitionen nach ICD-10 und hilft damit über die ersten Stolpersteine hinweg: die Abgrenzung von Anorexie und Bulimie sowie den Unterschied von „Anorexie, bulimische Form“ und Bulimie. Anorexie ist definiert durch Untergewicht, Körperschemastörung, Amenorrhoe und die aktiven Maßnahmen der Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc.), während die Bulimie kein Untergewicht, keine Körperschemastörung und keine Amenorrhoe kennt, wohl aber die Heißhungerattacken und die kompensatorischen Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung. Der Unterschied zwischen Anorexie (F50.0) und "Anorexie, bulimische Form" (F50.01) besteht demnach einzig in den zusätzlichen Heißhungerattacken.

Differenzialdiagnostisch muss an mehrere körperliche Erkrankungen gedacht werden, die vor einer Psychotherapie medizinisch abgeklärt werden. Die Liste möglicher körperlicher Auslöser ist lang und reicht von Fehlabsorptionsproblemen (z.B. Pankretitis, Colitis und Morbus Crohn) über Schilddrüsenfunktionsstörungen bis zu Darmparasiten und Tumorerkrankungen (S.15). Körperliche Untersuchung und Labordiagnostik sind deshalb wichtig.

Die Kombination aus dem Wunsch abzunehmen (bzw. der Angst zu dick zu werden) und einer übermäßig von Figur und Gewicht abhängigen Selbstbewertung ist sehr spezifisch für Essstörungen. Bei den meisten anderen körperlichen oder psychischen Erkrankungen berichten Patientinnen in aller Regel, sie wollten durchaus essen, könnten jedoch nicht. Es handelt sich eher um einen ungewollten Gewichtsverlust, und es werden andere Gründe angegeben: Übelkeit, Schmerzen, Krämpfe, Appetitlosigkeit (bei Depressionen) oder andere Befürchtungen (bei Ängsten oder Zwängen). Der Anteil depressiver Störungen (Depression und Dysthymia) liegt bei beiden Hauptessstörungen zwischen 50 und 75 Prozent (Komorbitität). Bei einem Drittel beginnt die Depression vor der Essstörung, bei einem Drittel danach und bei einem Drittel gleichzeitig.

Bei Komobidität stellt sich die Frage, was zuerst oder vorrangig behandelt werden sollte. Im Erst- oder Vorgespräch (bzw. den probatorischen Sitzungen) sollte gemeinsam mit der Patientin geklärt werden, ob es sinnvoll und machbar erscheint, trotz komorbider Störungen den Schwerpunkt auf die Behandlung der Essstörung zu legen. Möglich wäre auch, die Essstörung vorrangig zu behandeln und parallel dazu auf die Komorbidität einzugehen. Dies wird möglich sein, wenn sie die Komorbitität aus der Essstörung entwickelt hat. Daher ist es wichtig, eingangs die Reihenfolge des Auftretens der verschiedenen Störungen zu klären. Die komorbide Störung hat Vorrang, wenn es sich dabei um schwere Depression, schwere Schlafstörung, Suizidalität oder schwere Persönlichkeitsstörung (Borderline) handelt. Umgekehrt: Bei Substanzmissbrauch oder –abhängigkeit sollte eine Therapie erst begonnen werden, wenn sicher ist, dass die Patientin abstinent sein kann (S.42). Bei der parallelen Behandlung von Essstörungen und komorbiden Störungen besteht die Gefahr, an zu vielen Fronten gleichzeitig zu arbeiten und die möglichen Veränderungen im Essbereich zu vernachlässigen. Die Bearbeitung aller Probleme kann Patient wie Therapeut überfordern. Und die Patientin wird evtl. in der Überzeugung gestärkt, ihre Essproblematik lasse sich nur bei gleichzeitiger Behandlung anderer Problembereiche behandeln. Andererseits kommen mit der Reduktion der primären Essproblematik oftmals andere Problembereiche erst an die Oberfläche. Im begrenzten Zeitrahmen eines stationären Aufenthalts (6-8 Wochen) kann es nicht um vollständige Heilung gehen, sondern um Motivierung, Vorbereitung und Befähigung zur Weiterbehandlung im ambulanten Rahmen (S.70).

Überhaupt sind Ursachen und Folgen von Essstörungen nicht leicht auseinander zu halten. Viele Risiko- und Entstehungsfaktoren sind eher Begleiterscheinungen, Korrelate (Entsprechungen) und Folgen der Essstörung. Nach Angaben der Autoren wird auch von psychodynamischer Seite die Notwendigkeit einer auch symptomorientierten Behandlung akzeptiert. Die Erfahrung zeige, dass das Erreichen des Zielgewichts mit einer verhaltenstherapeutischen Behandlung mit einer besseren langfristigen Prognose einhergeht (S.94). Die zwei bedeutsamsten potenziellen Risikofaktoren vor Auftreten von Essstörungen sind   Diätverhalten bzw. gezügeltes (restriktiv kontrolliertes) Essverhalten und übermäßige Bedeutsamkeit von Figur und Gewicht. Daneben gibt es eine Reihe biologischer und psychosozialer Faktoren, die das Auftreten von Essstörungen wahrscheinlicher machen. Gestörte familiäre Interaktions- und Kommunikationsmuster, auf die die Tiefenpsychologie so großen Wert legen, sind nach Meinung der Autoren eher unspezifische Begleit- oder Folgeerscheinungen von Essstörungen (S.24). Das Geschlecht in die Liste der Risikofaktoren aufzunehmen scheint mir wenig angebracht, obgleich die Weiblich-Männlich-Verteilung bei Essstörungen 11 : 1 beträgt. Dem Neurotransmitter Serotonin wird bei Essstörungen eine besondere Bedeutung beigemessen. Bei Anorexie und Bulimie ist die Serotonin-Konzentration vermindert (S.31). 

Im Anschluss an diese theoretische Übersicht stellen die Autoren ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Störungsmodell mit entsprechenden Therapieempfehlungen vor (S.22 ff). Der Ablauf ist – je nach Studie zwischen 73 und 91% – in etwa gleich: Eine Diät markiert den unmittelbaren Beginn. Davor liegen andere Problembereiche oder Störungen, die in mangelndes Selbstwertgefühl (Patientin erlebt sich als nicht ausreichend kompetent und effizient) mündeten. Das Gefühl mangelnder Selbsteffizienz wird kompensiert über Nahrungsrestriktionen und Gewichtsverlust. Hierbei spielen soziokulturelle Faktoren, insbesondere ein medial vermitteltes Schönheitsideal, eine starke Rolle. Die Patientin setzt Schlanksein mit Erfolg und Anerkennung gleich und setzt sich eine deutlich zu niedrige Gewichtsgrenze. Hinzu kommen oftmals perfektionistische Tendenzen und hohe Leistungsstandards. Nahrungsrestriktion und Gewichtsverlust werden wie Leistungen angestrebt.  Erfolge auf diesem Gebiet führen zum unmittelbaren Gefühl von gesteigerter Selbstkontrolle und verbessertem Selbstwertgefühl und wirken sich damit negativ verstärkend aus. Nahrungsaufnahme wird so zum zentralen Thema. Auf absichtliche Diäten bzw. gewollt (kognitiv) gezügeltes Essen folgen meist nach einigen Monaten Fressanfälle. Sie werden kurzfristig als entlastend und spannungsmindernd erlebt. Da die damit drohende Gewichtszunahme hochgradig angstbesetzt ist, wird mit Erbrechen (oder Abführmittel) gegengesteuert (kompensiert). Die Kompensation verstärkt den körperlichen Mangelzustand und erhöht die Wahrscheinlichkeit weiterer Heißhungeranfälle (Teufelskreis). Gleichzeitig verschärft sich die gedankliche Einengung auf Figur und Gewicht immer mehr, andere Folgeerscheinungen nehmen zu: sozialer Rückzug, Stimmungsverschlechterung, erhöhte Reizbarkeit, körperliche Schwäche etc. Die Kompensation (Erbrechen) erhält die Funktion, Gefühle wie Angst, Enttäuschung oder Anspannung kurzfristig abzubauen. Doch schon kurz danach wird das Selbstwertgefühl weiter geschwächt, weil die Patientinnen ahnen, dass damit die zuvor bestehenden Probleme nicht gelöst werden und die Defizite bleiben. Das positive Gefühl der Selbstkontrolle über das Essen bleibt jedoch und wird zum alleinigen Maßstab für das Selbstwertgefühl. Auf diesem Wege wird verhindert, sich mit den vorhandenen Problemen und Defiziten zu beschäftigen (Vermeidungsstrategie). Das Gefühl der Unzulänglichkeit und die Angst vor der eigenen Verantwortung nehmen weiter zu.

Die Autoren gehen anschließend ausführlich alle Punkte durch, die in einer Therapie beachten werden sollten, darunter die Identifikation und Korrektur kognitiv verzerrter Einstellungen zu Essen und Gewicht, das Arbeiten mit "Schwarzen Listen verbotener Lebensmittel", die Vermittlung von Regeln im Umgang mit Essen, Beispiele für kurzfristige Strategien im Umgang mit Heißhungeranfällen und den Einsatz von Selbstbeobachtungsprotokollen. Dabei wird kaum ein Unterschied zwischen der Behandlung von Anorexie und Bulimie gemacht. Der Teufelskreis, in den die Patientinnen geraten, ist gut erklärt (S.35-37), ebenso die Frage der Behandlung von komorbiden Störungen. Sehr hilfreich sind die konkreten Hinweise zum Erstellen einer Therapievereinbarung (Essvertrag), der leicht auch auf ambulante Patientinnen zugeschnitten werden kann (S.52). Interviewtests und Selbstbeurteilungsbögen werden vorgestellt, aber aus Copyrightgründen leider nicht abgedruckt. Die Vorstellung von Selbsthilfegruppen ist etwas zu kurz geraten (u.a. hilft das Blaue Kreuz mit Adressen aus http://www.blaues-kreuz.org/Estrung.htm). Gänzlich ausgespart ist die oftmals aggressive Dramatik der Behandlung von jungen Essgestörten. Ihr eiserner Wille, nicht zuzunehmen und ihr Leben dem Essen bzw. Nichtessen zu weihen, ist beeindruckend und ernüchternd. Therapeuten stehen vor der enormen Schwierigkeit, diese Patientinnen zu einer Therapie zu verlocken und dort zu halten. Häufiger als bei anderen Störungen geraten diese Erkrankten unter Druck und brechen die Behandlung ab.

Das Buch erreicht sein selbst gestecktes Ziel, kurz und informativ alle relevanten Informationen über Anorexie und Bulimie auf knappem Raum dazulegen. Ich werde mir gleich das Buch über Adipositas besorgen (Bd. 19 der Reihe Fortschritte der Psychotherapie), um den Überblick über Essstörungen zu komplettieren, und bin fast sicher, auch in diesem Fall gut bedient zu werden.

Dr. G. Mackenthun  
Ruppiner Kliniken – Fachgebiet Psychosomatik

Februar 2005 

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Jacobi u.a.: Essstörungen
Essstörungen

 

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