Klußmann,
Rudolf:
Psychosomatische Medizin. Ein Kompendium für alle medizinischen
Teilbereiche.
5., korrigierte und aktualisierte Auflage, mit einem Geleitwort von
Wolfgang Wesiak, Springer Verlag, Berlin Heidelberg 2001, 559 Seiten, 80
Abbildungen, 34,95 Euro
Die moderne Medizin ist gespalten in eine hocheffiziente biotechnische
Medizin und eine am Rande mitlaufende, eher geduldete als geförderte
Psychotherapie. Seit mehreren Jahrzehnten wird versucht, beide Bereiche
unter der Bezeichnung Psychosomatische Medizin oder Psychosomatik zur Zusammenarbeit
zu animieren, mit mäßigem Erfolg. Obwohl die Psychosomatik vielleicht
noch stärker als die Psychotherapie ein Randbereich blieb, ist die
Literatur darüber unüberschaubar geworden und verwirrt den Interessenten
eher, als dass sie ihn aufklärt.
Rudolf Klußmanns "Psychosomatische Medizin" (Springer Verlag,
Heidelberg 2001), eine erweitere und aktualisierte Auflage eines Lehrbuches
von 1985, erhebt den Anspruch, in knapper Form über das Gesamtgebiet
der Psychosomatik zu informieren. Von besonderer Art ist die gewählte
Darstellungsform. Es handelt sich meist um tabellarische Überblicke
über alles Wissenswerte aus der Psychosomatik und Psychotherapie.
Diese werden ergänzt durch Diagramme und Grafiken. Das dritte Element
sind Fall-Vignetten, ein knappes Fallbeispiel pro Kapitel. Grundlage waren
Overhead-Folien, die Klußmann seinen Studenten an der Medizinischen
Poliklinik der Universität München präsentierte und mit
Kommentaren anfüllte.
Klußmann, der eine psychosomatisch Erkrankung "als eine körperlich-seelische
Wechselwirkung in der Entstehung, im Verlauf und in der Behandlung von
menschlichen Krankheiten" versteht, ist dem psycho-bio-sozialen Konzept
Thure von Uexkülls verpflichtet. "Der seelische Anteil an der jeweiligen
Symptomatik kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein und bezieht
sich wesentlich auf das, was 'spezifisch menschlich' ist. Im Mittelpunkt
steht dabei in der Regel eine zwischenmenschliche Beziehungsstörung,
der es nachzuspüren gilt." (S.X) Der Autor unterscheidet zwischen
allgemeiner und spezieller Psychosomatik. Für Ärzte und Psychologen,
die im Bereich der speziellen Psychosomatik tätig sind, hält
er Kenntnisse in der gesamten naturwissenschaftlichen Medizin, der Entwicklungspsychologie,
der Psychoanalyse und der Psychotherapie für nötig. Eine allgemeine
Psychosomatik
betreibe jeder am Patienten tätige Heilkundige. Sie sollten Balint-Gruppen
besuchen, um immer wieder ihr Verhältnis zu den Patienten zu überprüfen.
Der Hauptnachteil dieses Buches ist das Fehlen eben jener Erläuterungen,
die Klußmann einst den Studenten gab; die Texte sind kaum mehr als
ein Gerippe. Wie beim Einkochen und Eindicken eines Stoffes machten sich
die innersten Kräfte und Geister der Psychosomatik als Dampfwolke
davon. Damit gingen auch jene Informationen verloren, aus denen hervorgehen
könnte, wie Klußmann heute zu den alten psychosomatischen Konflikt-
und
Stresskonzepten steht. Es entsteht der fatale Eindruck, dass er ihnen noch
unkritisch anhängt. Dafür gibt es auf jeder zweiten Seite Beispiele,
ich greife hier nur drei heraus.
Die "heiligen Sieben" (Ulcus duodeni, Colitis ulcerosa, essentielle
Hypertonie, rheumatoide Arthritis, Neurodermitis und Asthma bronchiale)
waren einst die klassischen psychosomatischen Krankheiten. Seither hat
sich viel getan, die "heiligen Sieben" wandelten sich mehrmals, und im
Grunde ist man längst von diesem Kanon abgerückt. Davon erfährt
der Leser nichts. Und was heißt 'menschliche Krankheiten'? In jedem
Säugetier müssten diese Krankheiten beobachtbar sein, denn die
Physiologie ähnelt sich stark.
Oder nehmen wir das Beispiel Tuberkulose, deren epidemiologische Beobachtung
übrigens stark zum Fortgang einer frühen Psychosomatik beitrug,
die aber dennoch - aus unbekannt bleibenden Gründen - nicht unter
den "heiligen Sieben" aufgeführt wird. Aus Details lässt sich
schließen, dass Klußmann einer fragwürdigen "Psychogenie"
anhängt, obwohl er die Tuberkulose zunächst als bakterielle Erkrankung
bezeichnet. Wenn dann dort unter "Psychodynamik" unter anderem "verstärktes
Liebesbedürfnis" erwähnt wird (als Risikofaktor?), so fragt
man sich, warum unter "Aids" keine psychogenetischen Faktoren aufgeführt
werden, sondern lediglich Reaktionsweisen. Weil Aids zu eindeutig eine
(sexuell) übertragbare Krankheit ist? Aber in welchem Ausmaß
ist sie eine andersgeartete übertragbare Krankheit im Vergleich zur
Tbc, so dass bei Tbc eine Psychogenie erwähnt wird, bei Aids aber
nicht? (S.278-281) Ein drittes Beispiel: Glaubt der Autor mit Spitz (1967)
noch heute, dass Neurodermitis des Säuglings auf "Feindseligkeit in
Form von Ängstlichkeit" der Mutter beruht (S.387)?
Alte Konzepte der Psychosomatik von vor 50 Jahren, die als
widerlegt und irreführend angesehen werden müssen, werden vorgestellt,
als ob sie heute noch Gültigkeit hätten. Ursachen und Wirkungen
werden nicht sauber getrennt und teilweise sogar auf den Kopf gestellt.
Im Kapitel über Onkologie beispielsweise wird in einer Fallvignette
die Beziehungsunfähigkeit und die alexithyme Persönlichkeit einer Patiententin als mitursächlich für
die "Entstehung des Mammakarzinoms" herausgestellt. Haarausfall, um ein
weiteres Beispiel zu nennen, wird im wesentlichen auf eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur
zurückgeführt, während genetische Faktoren oder Medikamenteneinnahme
als mögliche Ursachen nicht einmal erwähnt werden. Die These
vom Selbstmord als nach innen gewendete Aggressionen hat gewiss einiges
für sich, doch ist damit das Thema in Wahrheit nur im Ansatz angerissen.
Gefolgt wird vor allem der älteren psychoanalytischen Theorie, wonach
Menschen, die unter der Last des Lebens zusammenbrechen, nur "narzisstische
Persönlichkeiten" sein können.
Das therapeutische Spektrum wird ohne weitere Diskussion ihrer
Vor- und Nachteile hintereinander abgehandelt. Da auf einordnende oder
relativierende und erwägende Passagen völlig verzichtet wurde,
können die zusammenfassenden Gliederungspunkte und Grafiken ihre Wirkung
kaum entfalten. Ihr Erklärungswert ist ziemlich gering, man wird damit
nicht besonders gut arbeiten können. Auch sonst scheint das Konzept
nicht aufzugehen. Die formelhaften Aufzählungen lassen Empathie für
die Patienten gar nicht erst aufkommen. Allenfalls lässt sich das
Buch als Nachschlagewerk nutzen, als Repetitorium für Studenten, als
Aufheller für Wissen, das einem momentan entfallen ist, oder als Materialsammlung
für eigene Vorträge und Unterricht. Doch bleibt zum Schluß
die Frage, warum der renommierte Springer-Verlag ein letztlich so schwaches
Buch verlegt hat.
Gerald Mackenthun
Berlin, Februar 2002
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Psychosomatische Medizin, Eine Übersicht