
Roudinesco, Elisabeth und
Plon, Michel: Wörterbuch der Psychoanalyse, Springer Wien New York, 2004.XII, 1261 Seiten. Gebunden EUR 78,--
Elisabeth Roudinesco wurde 1996 in Deutschland bekannt durch ihre fulminante
Lacan-Biographie, die Leben und Werk dieses schwierigen Autors lebendig,
kritisch und mit historischer Akribie nachzeichnet und in den Kontext der
europäischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts stellt. Die Biographie ist
der dritte und letzte Teil ihrer Geschichte der Psychoanalyse in Frankreich. Der
erste Teil liegt auch in deutscher Übersetzung vor. Ausgehend von Henri
Ellenberger und Michel Foucault hat sie die problematische Ausbreitung der
Gedanken Freuds in Frankreich dargestellt.
Sie hat in Paris Philosophie, Human- und
Literaturwissenschaften studiert und wurde 1991 mit einer Arbeit, betitelt
Études d' histoire du freudisme
,
etwa: Studien zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung habilitiert. Das
sind exzellente Voraussetzungen, um ein Wörterbuch der Psychoanalyse zu
verfassen. Ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychoanalyse war
gleichzeitig auch die Konfrontation mit der Geschichte der eigenen Familie.
Der Vater war nach ihren Angaben ein patriotischer Militärarzt und Anhänger
der Vererbungslehre, der kriegerisches Heldentum verehrte und Freud verteufelte.
Doch die Auseinandersetzung mit seiner allmächtigen Autorität habe ihren Geist
kräftig stimuliert und sie für Pazifismus und Sozialismus Partei ergreifen
lassen. Ihre Mutter, Jenny Aubry (1903-1987), war ebenfalls Medizinerin
mit Ausbildungen in Neurologie und Kinderpsychiatrie.
Nach einer Begegnung
mit Anna Freud wandte sie sich entschieden der Psychoanalyse zu. (Lehranalyse
bei Sacha Nacht und Kontrollanalyse bei Jacques Lacan). Ihre Arbeiten mit
Säuglingen und Kleinkindern prägten eine ganze Generation von Kinderpsychiatern.
Mit fünfzig läßt sie sich scheiden und nimmt den Namen ihres zweiten Mannes
an.
Hin und her gerissen zwischen den sich bekämpfenden
Positionen der Eltern studierte Elisabeth Roudinesco nicht Medizin, wie vom
Vater gewünscht, sondern schrieb sich an der philosophischen Fakultät der
Sorbonne ein. Die Geschichte der Medizin und der Klinik ließ sie verstehen, wer
ihr Vater und wer ihre Mutter war und welcher medizinischen Tradition jeder von
ihnen angehörte. Das hat ihre geistige Entwicklung stärker beeinflußt, schreibt
sie in Généalogies
, als acht
Jahre auf der Couch (bei Octave Mannoni).
2004 erscheint auf deutsch ihr 1300 Seiten
starkes Wörterbuch der Psychoanalyse
, Untertitel: Namen, Länder, Werke, Begriffe das sie zusammen mit
Michel Plon vom Forschungszentrum für Psychoanalyse verfaßt hat. Die Konzeption
dieses Werkes ist originell und ansprechend. Erstmalig werden die folgenden
Aspekte in einem einzigen Buch dargestellt:
In verständlicher Sprache erläutern die beiden Autoren grundlegende
psychoanalytische Begriffe und stellen die Biographien ihrer Autoren vor.
Psychopathologische Theorien, die sich mit der Psychoanalyse berühren,
Wissensbereiche in der Nachbarschaft der Psychoanalyse wie Psychiatrie,
Anthropologie, Kulturalismus und Historiographie werden auf einer bis drei
Seiten abgehandelt. Man kann nachlesen, wie sich die Psychoanalyse in 23 Ländern
unterschiedlich entwickelt und welche Institutionen sie hervorgebracht hat. Auch
die Frage, warum sie in manchen Ländern überhaupt nicht Fuß fassen konnte, wird
behandelt. Gut zu lesen sind die Wiedergaben aller 23 Werke, die Freud zwischen
1891 und 1938 schrieb. Literaten, wie Romain Rolland, Thomas Mann, Arnold Zweig
und Stefan Zweig, die Freud verehrten und mit denen er Austausch hatte, werden
porträtiert.
Unter den Werkbeschreibungen ist auch die Studie über
Thomas Woodrow Wilson ,
die William C. Bullit in Zusammenarbeit mit Sigmund Freud geschrieben hat und
die erst 1967 erschienen ist. Ein heutiger Leser könnte erschrecken, wie aktuell
diese "erstaunliche Analyse des Wahns eines normal erscheinenden Staatsmannes
bei der Ausübung seiner Staatsgeschäfte" ausfällt. Der 28. Präsident der
Vereinigten Staaten glaubte, Gottes Sohn zu sein und wollte als Politiker seine
messianischen Ziele verwirklichen. Weder kannte er die Geographie Europas noch
wußte er, daß dort unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Natürlich kannte
er auch den Brennerpaß nicht, so daß er im Vertrag von Versailles das
österreichische Südtirol bedenkenlos den Italienern zuteilen ließ, ohne zu
wissen, daß auch südlich des Brenners deutsch gesprochen wird.
Packend ist, was Roudinesco unter dem Stichwort
Anzieu Marguerite schildert.
1932 berichtet Lacan in seiner medizinischen Doktorarbeit über den Fall Aimée,
der eine Paranoia in Beziehung zur Persönlichkeit der Kranken setzt. Diese
Fallgeschichte hat große Bedeutung für Lacans Theoriebildung, ähnlich wie der
Fall Anna O. für die Psychoanalyse Freuds. 1986 konnte Elisabeth Roudinesco die
wahre Identität dieser Frau enthüllen. Sie war die Mutter von Didier Anzieu, der
eine Lehranalyse bei Lacan machte und seine Doktorarbeit über Freuds
Selbstanalyse bei Daniel Lagache schrieb, ohne zu ahnen, daß seine Mutter der
berühmte Fall Aimée gewesen war. Sie beschuldigte Lacan, ihr nie die Dokumente
zurückgegeben zu haben, die sie ihm bei Einlieferung ins Krankenhaus anvertraut
hatte.
Interessantes enthält auch das Stichwort
Frankreich . Der deutsche Leser
erfährt, daß sich das Nachbarland zwar relativ spät, dafür aber um so konstanter
der Psychoanalyse zugewandt hat, die dort nicht nur in der Klinik sondern auch
in Literatur, Philosophie und Linguistik ihre Verankerung fand. Schon die
Revolution von 1789 ermöglichte einen vernünftigen und wissenschaftlichen Blick
auf die Erscheinungen des Wahns. Dazu gesellten sich die Tendenzen der
literarischen Moderne, die, von Rimbaud ausgehend, die Idee von der Veränderung
des Menschen hochhielt. Auch die besondere Wertschätzung, welche die
Franzosen ihrer Sprache entgegenbringen, übertrug sich auf Freuds Lehre. Es
verwundert daher nicht, daß der Grammatiker Edouard Pichon so großen Einfluß auf
Jacques Lacan und Francoise Dolto gewinnen konnte. Doch die Einführung der
Psychoanalyse in Frankreich verlief nicht ohne Probleme: Es war eines der
Länder, in denen der chauvinistische Widerstand gegen die Psychoanalyse und der
Hass auf Freud am stärksten waren.
Das erlebt Elisabeth Roudinesco gerade heute, wo sie sich couragiert gegen
ein "Schwarzbuch der Psychoanalyse" zur Wehr setzt. In diesem Internet- Artikel
vom 14.09.2005 schreibt sie übrigens, daß sie keiner der zahlreichen
psychoanalytischen Vereinigungen angehört und auch nicht die Absicht hat, sich
in deren Angelegenheiten einzumischen. Daraus ist zu schließen, daß sie selbst
keine Psychoanalytikerin ist, wie der Verlag im Klappentext ankündigt,
wahrscheinlich nicht zum Vorteil der Autorin. Zurück zum Stichwort Frankreich:
Nach dem Tode Lacans 1981 kommt es in Frankreich zu einem endlosen Zerfalls- und
Splitterprozeß. Neben zwei "offiziellen" IPA- Gesellschaften teilen sich weitere
19 das psychoanalytische Terrain. Frankreich sei weltweit das Land mit der
prozentual höchsten Zahl an Psychoanalytikern.
Bemerkenswert ist, daß einige Begriffe, die auch
für Freud wichtig waren, im Wörterbuch
fehlen. Dazu zählen Affekt, Aggression, Arbeit, Geld und
Humor. Im Vorwort betonen die Autoren, der Inhalt konzentriere sich nicht
ausschließlich auf Freuds Entdeckungen; und in der Tat lassen sie die beiden
ersten Dissidenten Freuds, Adler und Jung, in deren Biographien zu Wort kommen.
Jungs Antisemitismus und Verehrung des Nationalsozialismus werden nicht
verschwiegen. Von Freud sagte Jung in einem Text von 1934, Zur
gegenwärtigen Lage der Psychotherapie:
"Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen
Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des
Nationalsozialismus, auf den eine ganze Welt mit Erstaunen blickt, eines
Besseren belehrt?"
Adlers Porträt fällt blaß aus. Seine Begriffe Minderwertigkeitsgefühl und
Männlicher Protest finden Erwähnung, aber Kompensation und die
zentralen Begriffe Adlers wie Lebensstil und Gemeinschaftsgefühl
fehlen. Adlers Wirken in den Vereinigten Staaten, wo er nach Edward Hoffman
immerhin mehrere Jahre lebte, kommt nicht zur Sprache. Auch wünschte man sich
von der Historikerin der Psychoanalyse eine Kommentierung dessen, was Henri
Ellenberger bezeichnete als:
"das verwirrende Phänomen einer kollektiven Verleugnung von Adlers Werk und
die Tatsache, daß alles, was er geprägt hat, systematisch anderen Autoren
zugeschrieben wird".
Wer sich über die Psychoanalyse und ihre Verzweigungen in der Welt
informieren möchte, findet in diesem Wörterbuch der Psychoanalyse- Handbuch der
Psychoanalyse wäre vielleicht treffender- ein anregendes und umfangreiches
Material. Gut lesbar und lebendig geschrieben, verschafft es einen Überblick
über etwa 300 psychoanlytische Begriffe und 450 Personen, die der Psychoanalyse
nahestanden oder sich von ihr entfernten. Der distanzierte Blick, mit dem die
Historikerin Roudinesco auf die bewegten Ereignisse einer 120jährigen Geschichte
der Psychoanalyse und auf die von ihr ausgelösten Debatten blickt, ist
wohltuend.
Dipl.-Psych. Klaus
Hölzer
Bad Rappenau,
Oktober 2005
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