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Shorter, Edward: Die Geschichte der Psychiatrie. Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, 590 S., 68,00 DM


Jede Zeit hatte ihr eigenes Vokabular für das Irresein, alle Begriffe jedoch (Hysterie, Nervenleiden, Hypochondrie, Manie, Neurasthenie) waren unpräzise und konnten nahezu jedes Symptom einschließen. Die Sprachverwirrung resultiert vor allem aus dem Umstand, dass es bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts praktisch unmöglich war, die Effekte der Neuronen und die der Psyche auseinander zu halten. Der Unterschied ist evident. Wenn Nervenleiden eine Erkrankung der Nerven sind, so sind sie der Kontrolle des Verstandes entzogen. Die Ursachenzuschreibung spaltete die Psychiatrie von Anfang an in eine neurologisch-biologische und eine biopsychosoziale Richtung mit unterschiedlichen Erklärungsmodellen und Therapien. Die neurowissenschaftliche Variante bezeichnet der amerikanisch-kanadische Medizinhistoriker Edward Shorter in seinem Buch "Die Geschichte der Psychiatrie" als "biologische Psychiatrie"; das biopsychosoziale Modell kennt viele Strömungen, vor allem die Psychoanalyse, die Sozialpsychiatrie und die Psychosomatik. Beide Strömungen, die biologische und die psychische, können nicht gleichzeitig richtig sein, überlegt der Autor. Entweder wird beispielsweise Depression durch ein biologisch erzeugtes und vielleicht durch Streß aktiviertes Ungleichgewicht von Neurotransmitter hervorgerufen, oder sie resultiert aus einem unbewußten psychodynamischen Prozeß. Der Streit ist nicht akademisch; je nachdem, welche Richtung in Psychiatrie und Psychotherapie die Oberhand hat, wird in der Heilung unterschiedlich verfahren. Dem Leser wird spätestens am Schluß des ungeheuer lesenswerten, fast 600 Seiten starken Buches klar, dass Shorter auf der Seite der biologisch-psychiatrischen Wissenschaft steht. Seine Hauptgegner sind die Psychoanalyse, die er für nicht seriöser als die Astrologie hält, und die "Antipsychiatrie" der 60er Jahre, die die realen Leiden der Irren und die &UuML;berforderung der Verwandtschaft ignorierte.

Die Geschichte des Irreseins ist nicht leicht zu rekonstruieren, weil sich für alle Reaktionen auf diesen Personenkreis Quellenbelege finden lassen: für das brutale Wegschließen und Kasernieren ebenso wie für Versuche, die Irren in die Gemeinschaft zu integrieren. Die frühere Literatur ist bruchstückhaft; daraus zu rekonstruieren, an was die Menschen in der Psychiatrie wirklich litten, ist zeitaufwendig. Shorter geht einige Einzelfallberichte durch und vergleicht sie mit dem heutigen Wissen der Psychiatrie, Psychologie und Psychosomatik. Die uneinheitliche Quellenlage ergibt sich auch aus der Vielfalt der Krankheitsbilder. Nervöse Unruhe, Psychosen, Demenz, Senilität, Neurosyphilis und Hirnhautentzündung konnten nicht unterschieden werde. Die Betroffenen wurden in "Asyle" auf dem Lande abgeschoben und dort verwahrt; ihre Betreuung galt als die unattraktivste aller ärztlichen Aufgaben. Shorter vertritt die These, dass Geisteskrankheit real existiert, die Unterschiede von Land zu Land in der Häufigkeit ihres Auftretens jedoch von sozialen Bedingungen abhing. Die schnell wachsende Zahl der Kranken in den Irrenanstalten im 19. Jahrhundert hatte seines Erachtens zwei Gründe: Zum einen wurden immer mehr "Irre" von den Familien in die Anstalten abgegeben, denn eine arme Stadtfamilie war mit einem Geisteskranken im Haus hoffnungslos überfordert. Zum anderen stieg die reale Zahl der Fälle von Neurosyphilis, Trinkerpsychosen und Schizophrenie zwischen 1850 und 1910.
Bis um 1900 hatten die Irrenärzte in den überfüllten Anstalten nichts in der Hand, um ihre Patienten zu therapieren und zu heilen. Mit der Jahrhundertwende änderte sich die Art, wie Geisteskrankheiten betrachtet wurden, erneut. Ärzte wie Wilhelm Griesinger und Theodor Meynert richteten ihr wissenschaftliches Interesse auf diese Krankengruppe und holte sie aus den Asylen an die Universitäten. Sie gingen davon aus, das Nerven- bzw. psychische Krankheiten auf Erkrankungen des Gehirns beruhen. Sie definierten sich als Wissenschaftler, die lernten, Diagnosen zu stellen und Statistiken zu führen, die histologisch arbeiteten und Mikroskope benutzten. Doch noch waren sie nur bedingt in der Lage zu differenzieren, was organische und was lediglich funktionelle (d.h. ohne Gewebsveränderung) Ursachen hatte. Immerhin konnte Neurosyphilis unter dem Mikroskop festgestellt werden, Neurasthenie ("Nervenschwäche") nicht. Wagner-Jaureggs Malaria-Fieberkur gegen Neurosyphilis war ein epochales Ereignis in der Medizin und gab der Psychiatrie neue Hoffnung, etwas für ihre Patienten tun zu können. Besiegt aber wurde die Syphilis mit Penizillin. 1929 in Oxford von Alexander Fleming entdeckt, wurde es ab 1944 in den USA gegen syphilitischen Irrsinn mit grandiosem Erfolg getestet. Doch Neurosyphilis war eine große Ausnahme unter den Psychosen, weil sie eindeutig durch eine Infektion ausgelöst wurde.

Der New Yorker Nervenarzt George Beard machte 1880 die Neurasthenie populär, das Buch wurde schon ein Jahr später ins deutsche übersetzt. Sie wurde mit Weir Mitchells "Ruhekur" therapiert. Bald wurde klar, dass das autoritäre Arzt-Patientinnen-Verhältnis ausschlaggebend war, nicht die physiologische Behandlung mit Bädern, Schwachstrom und Diät. Es ging darum, als Frau vor der ärztlichen Autorität zu kapitulieren und seinen Anweisungen zu folgen. Unterwerfung galt als Heilung.
Wenn die Erfolge der Ruhekur psychischer Natur waren, dann konnte Neurasthenie auch psychotherapeutisch behandelt werden. Sigmund Freud trieb die Suggestion in der Therapie so weit, dass sich seine Patientinnen an &UuML;bergriffe männlicher Erwachsener erinnerten, die wahrscheinlich nie stattgefunden hatten. Freud konnte selbst den folgsamen und leicht beeinflussbaren jungen Frauen nicht alles entlocken, was er von ihnen auf Grund seiner fixen Idee von der "sexuellen Ätiologie der Neurosen" hören wollte. Einige brachen empört die Therapie ab. Freud zog zunehmend Patientinnen an, die von vornherein wußten, was er von ihnen verlangte. Wer glaubte, dass sexuelle Motive im eigenen Fall keine Rolle spielte, dem war klar, dass er sich gar nicht erst an Freud (oder die anderen Psychoanalytiker wie Sandor Ferenczi, Sandor Rado und Melanie Klein) zu wenden brauchte. (S.230f) Alle Kritiker Freuds lehnten seinen sexuellen Reduktionismus ab, damals schon und heute immer noch. Sie hielten es für unvorstellbar, dass Onanie zu Affektverdrängung führt, oder dass sexuelle Abstinenz die Hauptursache für Ängste sein soll. Für die Psychoanalyse spricht, dass sie das autoritäre Arzt-Patienten-Verhältnis aufbrach und psychologische Sensibilität an den Tag legte.

Psychoanalytiker halten traditionell wenig von körperlichen Behandlungsverfahren. "Denn eines war klar: Wenn es tatsächlich die Neuronen im Gehirn waren, die die Menschen krank machten, löste sich die ganze psychoanalytische Theorie in Nichts auf." (333) Die bis in die 50er Jahre hinein wirksamste Behandlungsmethode schwerer psychischer Krankheiten, die Elektrokrampftherapie, war mit der psychoanalytischen Theorie unvereinbar und daher für sie inakzeptabel. Shorter, der auf der Seite der Biologen steht, versucht eine Brücke zu schlagen. "Doch im Grunde sind die biologische und die soziale Perspektive gar nicht unvereinbar, denn eine psychische Krankheit wird ohne Zweifel häufig durch sozialen Streß hervorgerufen und geformt." (357) Das ist das Feld der Psychosomatik. In der Formulierung Shorters haben wir es mit einer Abfolge, nicht mit einem Parallelismus zu tun: erst kommt die biologische Entgleisung, dann der Streß, dann das Symptom. Die Biologie bleibt die Grundlage. Ohne diese, das heißt allein durch Streß (oder eine schlechte Beziehung zur Mutterbrust), wird niemand schizophren oder depressiv. Vielmehr genügen geringste chemische und physikalische Veränderungen im Gehirn, um eine seelische Störung auszulösen, sagte schon Heinrich Laehr 1852. Die "erste biologische Psychiatrie", wie Shorter sie nennt, hatte auf dieser &UuML;berzeugung gefußt (einschließlich Freud), konnte aber mit ihren Instrumenten kaum nennenswerte Fortschritte erzielen. Erst 100 Jahre später war die kritische Masse an wissenschaftlicher Erkenntnis erreicht, um in der biologischen Psychiatrie den Durchbruch zu erzielen.

Das erste Medikament, das einigermaßen zuverlässig in den Hirnstoffwechsel eingriff, war Chlorpromazin Anfang der 50er Jahre. Es war mit das erste der Gruppe der Neuroleptika, die einen Rückgang von Psychosen bewirken. Es folgte 1958 das erste (wegen seiner dreifachen chemischen Ringstruktur trizyklisch genannte) Antidepressivum namens Imipramin. Die Depressiven wurden lebendiger, ihre leisen, gedämpften Stimmen klangen kräftiger, sie schienen kommunikationsfreudiger, alles Jammern und Weinen hörte auf (S.390). 1960 folgte das berühmte Lithium gegen leichte bis mittelschwere Fälle von Manie. Das EEG zeigte bei "funktionellen" (also ohne erkennbare physiologische Schädigung) Psychosen Anomalien und Deformationen, ebenso wie mit Hilfe von radioaktiven Isotopen die Hirnaktivität gemessen werden konnte, und der Anteil der Schilddrüsenaktivität an psychischen Krankheiten wurde erkannt. Die Psychobiologie bekam massive Unterstützung durch die Neurowissenschaft, die Neurophysiologie und die Neuropathologie. 1956 veröffentlichte Wolfgang de Boor, Professor in Köln, das weltweit erste Lehrbuch der Psychopharmakologie.

Vorangetrieben wurde die "zweite biologische Psychiatrie", wie Shorter sie nennt, vor allem von der Pharmaindustrie. Sie verlangte nach neuen Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung, um Arzneimittel zu entwickeln, die die biologischen oder anatomischen Reaktionswege blockieren, die zu Psychosen führen. Dopamin und Serotonin spielen die Hauptrolle. Die Rolle von Serotonin als Neurotransmitter wurde 1952 identifiziert, 1957 wurde Dopamin entdeckt. Mitte der 50er Jahre ging man von einem Zusammenhang zwischen Serotonin und Depression aus: Die trizyklischen Antidepressiva verhindern, dass die Neuronen das Serotonin wieder aufnehmen, sobald sie es einmal in die Synapsen (die Zwischenräume zwischen den Neuronen) abgegeben haben. Je weniger die Neuronen Serotonin aufnehmen, desto größer ist die Verfügbarkeit von Serotonin im Gehirn und desto geringer ist die Depression. Die Medikamente heißen deshalb auch "Wiederaufnahmehemmer" (401).

Bis Mitte der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts waren neben Dopamin und Serotonin über 40 Botenstoffe identifiziert. Mit modernen bildgebenden Verfahren wurden jene Hirnläsionen oder -anomalien gefunden, nach denen Meynert noch vergeblich gesucht hatte. Ihm standen nicht CT, MR und PET zur Verfügung, die ab den 70er Jahren einen Blick in das lebende Hirn ermöglichen. Die Anomalien stammen aus Vererbung (deswegen die Häufung in bestimmten Familien) oder aus pränatal erworbenen Veränderungen und Traumata während der Geburt (diese histopathologische Forschung wurde von der psychoanalytisch beeinflußten Psychiatrie tabuisiert; S.403). Sie schädigen das Gehirn im Entwicklungsstadium und machen es anfällig für psychische Krankheiten im späteren Leben. Auch Viren können die pränatale Hirnentwicklung stören. Grippe der Mutter im zweiten Schwangerschaftsdrittel beispielsweise erhöht außerordentlich das Auftreten von Schizophrenie unter den Kindern. Viren verhindern die Verbindungsaufnahme von Hirnzellen. Das Gehirn von Schizophrenen zeigt eine andere Topographie als das Gesunder. Die betroffene Person ist bereits im Jugendalter unfähig, normale Beziehungen einzugehen, mit Alltagsstreß umzugehen oder logisch zu denken (S.101). Seit Anfang der 90er Jahre liegen Beweise aus der Neuropathologie vor, dass Schizophrenie eine organische Krankheit ist. Auch bei manisch-depressiven Erkrankungen fand man vergrößerte Ventrikel, was nahelegt, dass sich diese Krankheit ihre Grundlage ebenfalls bereits in der Wachstumsperiode des Fetus bildet. Auch bei Zwangsstörungen ist die elektrische Aktivität des Gehirns eine andere als unter Medikamenten.

Die Psychoanalyse richtet nichts gegen die genannten Krankheiten aus, obwohl die amerikanischen (weniger die europäischen) Analytiker, die zum großen Teil Psychiater waren, für sich in Anspruch nahmen, auch für Psychosen, Schizophrenie Manie und Depression zuständig zu sein. Harry Stuck Sullivan und Frieda Fromm-Reichmann sind die bekanntesten Vertreter. Fromm-Reichmann verkündete, dass Schizophrenie durch Ängste verursacht werde und gab den "schizophenogenen Müttern" mit ihrer schizophrenieerzeugenden Kommunikation die Schuld. Generationen amerikanischer Frauen sollten unter diesem absurden Vorwurf leiden. Indem die Psychoanalyse ein quantitativ abgestuftes Spektrum von Gesundheit und Normalität über neurotische Störungen bis zur Schizophrenie annahm, trug die Psychoanalyse nichts zum Erarbeiten klar definierter Krankheitsbilder bei. Für sie waren alle Menschen ein bißchen neurotisch, ein bißchen krank, d.h. Produkte einer ungünstigen Erziehung und zusätzlich belastet durch das Unvermögen, sich anzupassen, was eine genetische oder biologische Ursache für diese Krankheiten ausschließt (S.272). Gibt es diese Kontinuität wirklich oder handelt es sich nicht doch um qualitativ verschiedene Krankheiten, die unterschiedlicher Therapien bedürfen?

Eine Psychiatrie und Psychoanalyse, die nicht zwischen Neurose, Demenz, Psychose und Schwachsinn differenziert, gleicht einer Lärmbekämpfung, die das Geräusch eines Computers nicht von dem eines Lastwagens unterscheidet (S.82). Konkret läuft das auf die Frage hinaus: Soll Depression und Schizophrenie von Psychotherapeuten behandelt werden? Für Shorter ist die Antwort klar: Seit den 60er Jahren gibt es medizinische Therapien, die dauerhafter, schneller und tiefgreifender wirken als das, was unter Psychoanalyse firmiert (S.467). Gleichwohl hatte die Psychoanalyse Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in der Psychiatrie der USA eine unangefochtene Stellung erreicht.

Die Effektivität der Psychoanalyse im Vergleich zu anderen Therapiemethoden einschließlich des abwartenden Nichtstuns wurde schon 1952 von Hans Eysenck bestritten. 1954 hieß es in einem Lehrbuch von William Mayer-Gross: "Freuds oberflächlich rationaler Ansatz unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaft ist die heute vermutlich erfolgreichste Form von Gesundbeterei." (zit. bei Shorter S.466) Und noch 1985 schrieb er, alle Wissenschaft müsse durch eine Phase der Quacksalberei hindurch; die Psychoanalyse stehe vor der schweren Aufgabe, sich in eine wirkliche Wissenschaft zu verwandeln. Die Psychoanalyse ist für Shorter ein intellektuell anspruchsvoller Zeitvertreib, ähnlich einem Jahresabo für die Oper. Sie verhilft einen zu gewissen Einsichten in das eigene Innere (S.463), doch im Grund hält Shorter sie für wissenschaftlich bankrott, die Nachweise für eine biologische Genese psychischer Krankheiten häufen sich. Psychische Störungen können nicht gleichzeitig durch Serotoninmangel und durch eine anormale Mutterbeziehung verursacht werden (S.224).

Der zweite große problematische Gegenspieler der psychiatrisch-psychologischen Entwicklung war nach Shorters Dafürhalten die sogenannte Anti-Psychiatrie. Sie wurde angeführt von Wissenschaftlern, die die Existenz von Geisteskrankheiten grundsätzlich abstreiten (S.103). Während die neurowissenschaftliche Psychiatrie immer mehr pathologische Gehirnzustände entdeckte, sahen die Sozialpsychiater eine Gesellschaft, die Abweichungen immer weniger tolerierte. Sie hielten Geisteskrankheit für ein soziales Konstrukt und glaubten, die industriekapitalistische Gesellschaft räche sich an Menschen, die arbeitsunwillig seien und einen unkonventionellen Lebenswandel führen. Sie hatten eine romantische Vorstellung von sanften Idioten, die tagelang unter schattigen Bäumen sitzen und ihren versponnenen Gedanken nachhängen. Solche gibt es auch, doch oftmals handele es sich um apathische, sabbernde und aufgedunsene Menschen, die ihre Kleidung und ihre Reinlichkeit vernachlässigen, unwillkürliche Harn- und Stuhlentleerung zeigen, in unbewegten, starren Haltungen verharren, ein blödes Lachen und keinerlei Erinnerungen an ihr früheres Leben haben und zu Gewalttätigkeiten neigen. Wer möchte so einen Menschen bei sich zu Hause in der Stadtwohnung haben?

Die Schlußabsätze des Buches lauten:
"Psychiatrie ist ein Spezialgebiet, das sich auf das Arzt-Patienten-Verhältnis versteht. Ob man sich nun auf Psychotherapie oder Neurowissenschaft konzentriert hat, als angehender Psychiater lernt man in jedem Fall, dass die eigentliche Kunst darin besteht, seinem Patienten Zeit zu widmen. Die durchschnittliche Behandlungsdauer beim Internisten beträgt zehn Minuten, die durchschnittliche Gesprächsdauer beim Psychiater mehr als vierzig Minuten.
Innerhalb dieser vierzig Minuten tun Psychiater im Gegensatz zu ihren Konkurrenten - den Psychologen und Neurologen - im wesentlichen zwei Dinge: Sie bieten eine Psychotherapie an, was Neurologen im allgemeinen nicht mehr tun...; und sie verschreiben Arzneien, was wiederum Psychologen und andere nichtmedizinische Konkurrenten nicht tun dürfen.
Diese Kombination aus Psychotherapie und Medikation ist der effektivste unter allen möglichen Ansätzen, sich mit den Störungen des Gehirns und Verstandes zu befassen. Die Schlußfolgerungen vergleichender Studien über die Effektivität von Psychotherapie oder Medikation als jeweils alleinige Maßnahme oder von beiden Ansätzen zusammen decken sich mit der Erkenntnis, dass 'Neurochem' [Medikamente] und 'Neurochat' [Psychotherapie] einander zur optimalen Behandlungsform ergänzen. 'Der Vorteil einer kombinierten Behandlung ist eindrucksvoll', schließ eine dieser Studien. 'Sie kann mehr sein als nur die Summe zweier Behandlungsweisen, da die eine offenbar die andere potenziert. [Lester Luborsky et al., Comparative Studies of Psychotherapies: Is it True That 'Everyone Has Won and All Must Have Prizes'?, in: Archives of General Psychiatry, 32, 1975, S.1004] Vermutlich gibt es in der Tat eine Synergie zwischen den beiden Möglichkeiten, die den Patienten zur Verfügung stehen: durch Medikation eine biologische Genesung herbeizuführen und/oder mit einem empathischen Arzt über all jene Wahrnehmungstrübungen zu sprechen, die psychische Krankheiten zu begleiten pflegen.

Die Betonung liegt hier auf dem Wort Arzt. Denn auch wenn man die Bedeutung von Psychologen und Sozialfürsorgern keineswegs unterschätzen darf, legt die Medizingeschichte doch nahe, dass sich das Bewußtsein eines kranken Menschen, von einem Arzt behandelt zu werden, auf irgendeine Weise vorteilhaft auf ihn auswirkt. Zudem scheint es tatsächlich zu einer umfassenderen Katharsis zu kommen, wenn man seine Geschichte einer geschätzten Person erzählen kann, die nicht nur ein Freund oder Vertrauter ist, sondern auch Arzt." (S.486-488)

Gerald Mackenthun, Berlin


Ein weiterer Diskussionsbeitrag in Form einer kritischen Rezension

Es waren Bücher wie Wahnsinn und Gesellschaft des französischen Philosophen Michel Foucault oder Einer flog übers Kuckucksnest von Ken Keasey, die dafür sorgten, daß die Sache bis vor einigen Jahren klar schien: die Psychiatrie verdanke ihre Existenz der Entstehung des modernen Staates, und Geisteskrankheit sei letztlich nichts anderes als eine gesellschaftliche Stigmatisierung sozial unerwünschten Verhaltens.

Die Geschichte der Psychiatrie erschien unter diesen Vorzeichen im wesentlichen als ein Kampf Gut gegen Böse, mit dem leisen Versprechen eines Happy-End. Die Bösen: das waren die biologistisch ausgerichteten Anstaltspsychiater, die in den Hirnwindungen nach den Spuren psychischer Anomalie suchten und sich Praktiken bedienten, wie sie Jack Nicholson in der Verfilmung des Keasey-Romans erdulden mußte: Entmündigung, Zwangsinternierung, Psychopharmakabehandlung, Elektroschocks und Lobotomie. Die Guten in diesem Spiel waren die Psychotherapeuten um ihre Lichtgestalt Freud, die die Ursachen psychischer Erkrankung in der Persönlichkeit oder dem sozialen Umfeld des Kranken zu erkennen glaubten. Und dort, in der Psychotherapie - genauer gesagt: in der Psychoanalyse -, schien auch das künftige Heil der Psychiatrie zu liegen.

Der an der Universität Toronto lehrende Medizinhistoriker Edward Shorter räumt in seinem neuesten Werk zur Geschichte der Psychiatrie gründlich mit diesem Geschichtsbild à la Freud meets Cuckoo auf. Anhand einer Fülle von Material weist er nach, daß Geisteskrankheiten eine sehr reale, primär biologische Basis besitzen, und Foucault seine Quellen schlecht studiert hat: die Entwicklung der Psychiatrie scheint von den sich neugebildeten Zentralstaaten sogar eher behindert worden zu sein. Und Zweifel äußert Shorter auch an der Auffassung, mit der Psychoanalyse habe sich eine echte Alternative zu der klassischen, biologisch orientierten Psychiatrie angeboten. Für ihn ist die Lehre Freuds keineswegs der Königsweg hin zu einer "besseren", d.h. menschlichen, Psychiatrie, sondern im Gegenteil eine historische Sackgasse in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen.

Wissenschaftliche Auseinandersetzung aber bedeutet für Shorter in erster Linie die Beschäftigung mit dem Gehirn als Substrat psychischer und psychopathologischer Prozesse. Obwohl er den prinzipiellen Nutzen der Psychotherapie in der psychiatrischen Heilbehandlung nicht bestreitet, sieht er die Zukunft der Psychiatrie doch vor allem in der modernen Neurowissenschaft.

Das Buch hatte bereits bei seinem Erscheinen in den USA 1997 für - auch internationale - Aufmerksamkeit gesorgt. Der Grund hierfür dürfte dabei weniger in den provokanten Thesen Shorters zur wissenschaftlichen Tauglichkeit der Psychoanalyse liegen als vielmehr in dem gelungenen Versuch, die Geschichte der Psychiatrie auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent in einen breiten sozialhistorischen Kontext einzubetten.

Vor dem Hintergrund einer solchen Perspektive finden sich interessante und sehr geistreiche Betrachtungen etwa zu einer begriffskosmetischen Neuorientierung in der Psychiatrie des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Ob in Amerika oder Europa: plötzlich war man nicht mehr "geisteskrank", sondern hatte etwas mit den "Nerven" - eine letztlich organische Krankheit also, die man in der Folge auch nicht mehr in einer "Irrenanstalt" kurierte, sondern in einem auf "Nerven" spezialisierten Kurbad. Die Ursache für solche Umbenennungen sieht Shorter vor allem in der Erschließung eines neuen Marktpotentials durch die Psychiatrie: den psychiatriebedürftigen Mittelstand, der so dem gesellschaftlichen Makel des "Verrücktseins" entgehen konnte. Zugleich, so Shorter weiter, bot diese Verschleierungstaktik dem Berufsstand der Psychiater eine Möglichkeit, die Anstalten zu verlassen und sich in lukrativen Privatpraxen niederzulassen.

Doch auch die großen (und kleineren) Namen und Entdeckungen in der Geschichte der Psychiatrie kommen bei Shorter nicht zu kurz und tragen so zur Qualität des Buchs als eines Standardwerks der Geschichte der Psychiatrie bei. Vom deutschen Verlag ist dies offenbar nicht erkannt worden. So hat man gerade dort gespart, wo man bei einem solchen Werk nicht sparen sollte: an einem Fachlektorat des von Yvonne Badal ansonsten sorgfältig übersetzten Textes, an der Aktualität (so fehlen etwa die vieldiskutierten jüngsten Befunde Klaus Grawes zu den Heilwirkungen der Psychotherapie) sowie an einem Sachregister, das auch eine begriffliche Erschließung des Werks erlauben würde. Dennoch: die Geschichte der Psychiatrie von Edward Shorter sollte zur Pflichtlektüre all derer gehören, die sich mit Psychiatrie beschäftigen.

Gerd Busse, erstmals erschienen in: "Psychologie heute" 27, H. 2, 2000, S. 72-73

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